Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Markus Zimmermann: Gewalttätiger Gott – gewalttätiger Glaube?

 

Zu den besonders erschreckenden Gewalttaten, von denen aus beinahe jedem Krieg berichtet wird, gehört die Tötung von Kindern. Sie ist das Kriegsverbrechen, das die Emotionen am stärksten erregt und gegen die Aggressoren aufbringt. Umso schlimmer, wenn eine solche Gewalttat von Gott selbst befohlen wird – wie in 1 Sam 15: Durch Samuel gibt er Saul den Befehl, alle Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder, Schafe, Kamele und Esel der Amalekiter zu töten. Da Saul den Befehl nicht exakt ausführt, sind seine Tage auf dem Thron gezählt.

Für Markus Zimmermann, Fundamentaltheologe und Dogmatiker an der Päpstlichen Universität Gregoriana, ist diese Stelle ein Beispiel für die religionshistorisch vielfach belegte „Gewalt ad extra“. Auch die „Gewalt ad intra“ entdeckt Zimmermann in der Bibel, exemplarisch in Ex 32, 28, wo die Hinrichtung von 3000 Menschen berichtet wird, die um das Goldene Kalb getanzt hatten. Zimmermann will solche Stellen nicht historisch-kritisch (weg-)erklären, sondern ihre Relevanz für eine angemessene Beantwortung der Gottesfrage beleuchten: einerseits weil sie allzu lange genutzt wurden, um Gewalt im Namen Gottes zu legitimieren, andererseits weil die konstruktive Gesellschaftsfähigkeit des monotheistischen Glaubens mit Verweis auf die Gewalteskalationen in Vergangenheit und Gegenwart fraglich geworden ist; und schließlich weil die Gewaltgeschichten den Kern des monotheistischen Gottesglaubens berühren: Wer ist Gott? Ein gewalttätiger Machthaber oder ein barmherzig Liebender? Und muss der Glaube an einen Gott, dem Gewalt zugeschrieben wird, automatisch zu einem gewalttätigen Glauben führen?

Zimmermann nimmt die Titelfrage seines Buches unter vier Perspektiven in den Blick. Im ersten Hauptteil stellt er „das Christentum mitsamt seinem Gottesbild auf den Prüfstand“ (10) und sucht zu klären, ob die Geschichte des Christentums als Gewaltgeschichte zu begreifen sei. Im zweiten Hauptteil fragt er, ob es sich beim Sakrament der Krankensalbung um eine Gewaltinszenierung handele. Der dritte Hauptteil widmet sich dem Fegefeuer und problematisiert seine Rolle im Kontext einer christlichen Gewaltpädagogik. Im letzten Hauptteil stellt sich Zimmermann der Missbrauchsgeschichte der katholischen Kirche und weist einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt: Papst Franziskus’ „Revolution der Barmherzigkeit“ und die „Unterscheidung der Geister“.

In diesen vier Hauptteilen verfolgt Zimmermann nicht das Ziel, das Thema seines Buches umfassend zu behandeln. Er legt sich vielmehr exemplarische Fragen vor, die ihn im Laufe seines theologischen Denkens und priesterlichen Handels beschäftigt haben. Diese Verbindung von subjektivem Zugriff mit dem Anspruch auf eine intersubjektiv nachprüfbare Argumentation ist eine Stärke und zugleich eine Schwäche des Buches. Eine Stärke ist z.B., dass Zimmermann seine Reflexionen über die Krankensalbung anschaulich an eigene Erfahrungen knüpft. Eine Schwäche ist die aus der persönlichen Auswahl resultierende Heterogenität des Buches. Denn Krankensalbung und Fegefeuer besitzen für Christen heute kaum noch dieselbe Relevanz wie früher und spielen im öffentlichen Diskurs keine Rolle – anders als die im Zuge des russischen Angriffskriegs erneut aufgeworfenen Fragen nach der Funktionalisierung von Religion im Krieg oder den strukturellen Ursachen des Missbrauchs.

Im ersten Hauptteil arbeitet Zimmermann, ausgehend von einer Auseinandersetzung mit den Thesen Jan Assmanns zum Gewaltpotential des Monotheismus, pointiert heraus, dass die „vermeintliche ‚Mutter der Intoleranz‘ (Sloterdijk)“ keineswegs eine „poly- oder kosmotheistische Großmutter der Toleranz“ gehabt habe (31). Die in der hebräischen Bibel zum Ausdruck kommende Gewalttätigkeit des Gotteskonzepts führt Zimmermann auf eine kritiklose Übernahme der assyrischen Herrschaftsideologie zurück. Die religionshistorisch entscheidende Abkehr von diesem Gottesverständnis markiert für ihn die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und die Exilierung der Oberschicht nach Babylon. Fortan sei Gott anders gesehen worden: als gewaltvermeidender Kosmokrator, der sich den Unterdrückten zuwendet. Das Christentum habe mit Jesus dann sogar ein Opfer der Gewalt ins Zentrum gerückt. Für Zimmermann ist das ein „Umbruch bei aller Kontinuität“ (10) zum jüdischen Gottesverständnis. Denn zum einen habe die heilsgeschichtliche Offenbarung Gottes in Christus alle Gewalt entlarvt und überwunden. Und zum anderen habe Gott sich dadurch endgültig als ein Gott der Beziehung offenbart, der die Menschen nach dem Vorbild seiner dreifaltigen Einheit zum kommunikativen Sein, Denken und Handeln ohne die „Dissonanz pluraler Entzweiung“ (26) einlade. Ein Christentum, das Gewalt anwende, sei mit Norbert Lohfink insofern „als Abfall vom eigenen Wesen“ zu verstehen.

Im zweiten Hauptteil konstatiert Zimmermann, dass das Sakrament der Krankensalbung aufgrund einer geschichtlichen Verengung problematisch geworden sei. Die bis heute gängige Sündenvergebung unmittelbar vor dem Tod sei nicht das ursprüngliche Ziel der Krankensalbung gewesen, sondern das Resultat einer Kombination von Krankensalbung mit dem Viaticum und der paenitentia ad mortem seit dem 8. Jahrhundert. Heute dürfe die Krankensalbung indes nicht (mehr) als Sakrament zum Tode missdeutet, sondern könne als Zeugnis für die heilsame Barmherzigkeit Gottes profiliert werden. Das Sakrament aus der Abgeschiedenheit des Krankenzimmers herauszuholen und in die Feier von Seniorenmessen etc. zu integrieren, sei die Aufgabe der Seelsorger.

Im dritten Hauptteil distanziert sich Zimmermann, abermals unter Berücksichtigung weniger ausgewählter biblischer und kirchengeschichtlicher Zeugnisse, davon, die Rede vom Fegefeuer mit einem gewaltpädagogischen Impetus zu versehen. Stattdessen bemüht er sich um ein hoffnungsvolles Verständnis der kirchlichen Purgatoriumslehre. Das Fegefeuer sei „das sich in der Christusbegegnung ereignende, auch post mortem unaufhebbare, läuternd-heiligende Heilshandeln Gottes“ (82).

Der vierte Hauptteil, konzipiert als akzentuierter Beitrag zur Analyse der aktuellen Situation der katholischen Kirche, ist der längste, aber nur stellenweise überzeugende Part des Buches. Das liegt weniger daran, dass das Thema Missbrauch im Kontext der Frage nach einer christlichen Gewaltgeschichte ein separates Buch verdient hätte, als daran, dass Zimmermann auf irritierende Weise zugleich Klartext spricht und doch um Relativierung bzw. um eine Würdigung kirchlichen Handelns bemüht ist. Zwar nennt er die Missbrauchstäter einerseits „Kirchenamtskriminelle“, doch andererseits bringt er den Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen mit einem „bedeutenden nichtsexuellen innerkirchlichen Missbrauch“ zusammen: den sogenannten Vatileaks (111). Die sorglose Verwendung des Wortes „Missbrauch“ weist auf ein grundlegendes Problem des Buches hin: die fehlende Klärung der Begriffe. Das gilt vor allem für den Begriff der Gewalt selbst. Es ist immerhin zu fragen, ob die massenhafte Tötung von Menschen, die künstlerisch gestalteten Schreckensbilder und -erzählungen des Fegefeuers oder der von einem Priester gegen eine sterbende Frau ausgeübte Zwang zur Krankensalbung nicht recht unterschiedliche Phänomene sind, die durch das gemeinsame Etikett „Gewalt“ in ihrer Eigenart nicht genügend erfasst werden. Problematisch wirkt auch, dass das letzte Kapitel schließlich von den Opfern des Missbrauchs wegführt und in einen hagiographisch anmutenden Lobpreis auf Papst Franziskus mündet, dessen „Gaudete et exsultate“ Zimmermann die Erkenntnis verdankt, dass die „Unterscheidung der Geister“ das probate Mittel sei, um jede Form gewaltbereiter Selbstsicherheit zu hinterfragen. Wenn das Buch zur Erschütterung dieser Selbstsicherheit beiträgt, hat es gewiss ein nicht unerhebliches Ziel erreicht. Zur Pflichtlektüre für alle, die nach der Gewalttätigkeit Gottes und des christlichen Glaubens fragen, gehört es trotz allem nicht.

Wege der Barmherzigkeit Gottes
Freiburg: Herder Verlag. 2022
143 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-451-39237-5

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