Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Martha C. Nussbaum: Politische Emotionen

Eigentlich wollte ich eine Rezension zu Martha Nussbaums neuem Buch schreiben. Eine ganz normale. Ich hatte vor, sie gegen ihre Kritikerin Eva Illouz zu verteidigen (vgl. Die Zeit Nr. 42/2014, 55), weil Letztere Ersterer kurz nach Erscheinen des Buchs 2014 im Prinzip vorwarf, bei dem Projekt, die soziale Gerechtigkeit durch Liebe zu fördern, Emotionen nicht wie sie selbst als institutionelle, sondern als psychologische Größe zu benutzen. Warum sollte man nicht anders denken dürfen – dachte ich und dabei lag eine Vorentscheidung zu Nussbaums Gunsten in der Luft. Mir kam vor, es sei durchaus legitim, eine gute Gesellschaftsordnung mit guten Gefühlen verbinden zu wollen – genauso, wie sich die Krise der aktuellen Gesellschaft mit Unbehagen breitmacht. 

Und dann kam mir das Leben dazwischen. Erst die Pariser Attentate auf die Wochenzeitung „Charlie Hebdo“ vom 8. Januar 2015. Dann die republikanische Großdemonstration vom 11. Januar. Schließlich die Lektüre des Buchs selbst: Bei so viel stilistischer Selbstromantisierung (in Sätzen wie: „Bilder von natürlicher Schönheit sind immer herzzerreißend, weil sie mit Sterblichkeit und dem Vergehen der Zeit verknüpft sind.“) und Mangel an wissenschaftlicher Neutralität (in Sätzen wie: „Ich werde darlegen, dass Liebe die Achtung der Menschen vor dem Leben erfüllt und sie zu mehr als einer bloßen Hülse macht.“) stieg leider auch mein Unwille an einer neutralen Beurteilung des Werkes. Ach, wären das doch nur Übersetzungsprobleme! Diese politische Philosophie verfehlt ihren als Motivation intendierten Beitrag zu einer notwendig gewordenen neuen Vergesellschaftung im 21. Jahrhundert bei ihrem potentiell geneigten Leser – da erübrigt sich jeder Testlauf in der komplizierten Sphäre des öffentlichen Zusammenlebens: Wo die Schweißnaht der Solidarität durch (Mit)Gefühle zwischen den Bürgern hielte, wird bestenfalls die Vorstellung von einer Gesellschaft der Individuen befördert, aber nicht die Mechanik ihrer emergenten Einrichtungen/Systeme wie Politik, Recht oder Religion optimiert oder auch nur angesprochen. Das Problem der aktuellen Systemkrise ist aber doch, dass uns so etwas wie die Aufgabenteilung einer guten Gesellschaft, wie Platon sie in seiner Politeia ursprünglich vorgelegt hat (Durkheim sie am Anfang und Luhmann am Ende der Moderne durchbuchstabiert haben), abhanden gekommen ist und alle irgendwie alles machen müssen (die Banken machen Politik, die Kunst wird zum Markt für Gutbetuchte, Wissenschaft differenziert sich entlang eigener Dogmen aus und in all dem mutiert Politik zum öffentlichen Spektakel – was der Studie mit dem von daher sehr einsichtigen Titel „Politische Emotionen“ eine ganz andere, interessante Richtung gewiesen hätte) und jeder mit jedem im gnadenlosen Wettbewerb steht. Jemand, der (wie Nussbaum, aber auch Illouz) unter diesen Umständen glaubt, seine Emotionen noch klar zuordnen zu können, verweigert sich den Verhältnissen und ist entweder nicht ganz im Heute angekommen (Rückfrage: Kommt daher der historische Überhang des Werks?) oder eine Art Nostalgiker – seine Emotionen hängen an etwas scheinbar Existierendem, das in Wirklichkeit längst tief verstaubt ist. 

Also antwortet auf Nussbaums omnipräsenten Ich-Erzähler hier das empörte Ich des Analytikers: Martha ist Charlie! Erstens. Und zweitens: Alle unterwerfen sich freiwillig dem radikal Guten – ich befürchte deshalb das Übelste. Nussbaums philosophisches Engagement wird angetrieben von der Aufgabe, dem radikal Bösen wirksam zu begegnen, seine Kräfte in Schach zu halten und alles für ein aufrichtiges Bekenntnis zu den Prinzipien und Institutionen der Gesellschaft zu tun. Das ist exakt die Tonlage, in der das republikanische Credo bei der Pariser Großdemonstration am 11. Januar erklang, als Frankreichs Staat und Gesellschaft selten einmütig für ihre Werte zusammenstanden. In Hommage an „Charlie Hebdo“ und als Ausdruck sowohl der Betroffenheit als auch des Widerstands gegen das Übel des Terrorismus erklärten Millionen von Menschen: „Ich bin Charlie“. Nur absolute Außenseiter wie Jean-Marie Le Pen haben sich diesem symbolischen Akt demokratischer Wehrhaftigkeit verweigert. Nussbaum wäre gewiss stolz auf diese patriotischen Massen.

Das Problem ist allerdings, dass Nussbaum zur Erreichung einer solchen Wirklichkeit vorschlägt, eine Regierung solle versuchen, „die Psyche ihrer Bürger direkt zu beeinflussen“. Nur ein kleiner Akt der Psychohygiene im Dienst der großen Gerechtigkeit? Darf es noch ein bisschen mehr Faschistoides beim moralphilosophischen Patriot Act sein? Vorsicht vor Leuten, die solche Verbrüderung emotional „erzeugen“, „fördern“, „lehren“, „pflegen“, „lenken“, „vermitteln“, „bearbeiten“ und „aufrechterhalten“ wollen! Ansonsten: Vorbei die Freiheit, aus der heraus und für diese die Pariser Demonstranten ihre sonntägliche Komfortzone verlassen haben, um sich als Schutzschilde der Republik zu engagieren. Stattdessen verhörte die Polizei dann wohl noch mehr achtjährige Kinder wegen fragwürdiger antirepublikanischer Gesinnung!

Freilich: In einer Welt außer Kontrolle fällt das systematische Nachdenken immer schwerer. Einfacher ist, die Disziplinargesellschaft zurückzurufen. Ihre Regelungswut schränkte erst Handlungen ein. Jetzt geht es den Gefühlen ans Leder. Wenn sich nachher alle freiwillig dem radikal Guten der demokratischen Republik unterworfen haben, bleiben mit dem Diskurs die Kräfte auf der Strecke, die sie weiter voranbringen. Endstation: Selbstabschaffung – aktuell nachzulesen bei Michel Houellebecq, dessen politische Fiktion „Unterwerfung“ (2015) sich leider als Fortsetzungsband von Nussbaum eignet.

Berlin: Suhrkamp Verlag. 2014
623 Seiten
39,95 €
ISBN 978-3-518-58609-9

 

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