Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Martin Mosebach: Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer

Ein bemerkenswerter, aber nur selten thematisierter Aspekt von „Weltoffenheit“ besteht darin, dass die Offenheit gegenüber fremden Einstellungen und Gepflogenheiten häufig umso größer ist, je weiter die betreffende Kultur räumlich oder mental entfernt liegt. So verfolgt der aufgeklärte westliche Tourist mit Neugier und Interesse die Gesänge und Zeremonien der buddhistischen Mönche in dem Bergkloster, an dem er auf seinem Himalaya-Treck vorbeikommt, während er gegebenenfalls im heimischen Umfeld die religiösen Ausdrucksformen seiner christlichen Mitbürger als zu überwindendes Relikt aus der Kindheitsphase der Menschengattung empfindet und dies nach außen bekundet, ohne die Befürchtung hegen zu müssen, der Intoleranz geziehen zu werden. Auch innerhalb christlicher Kreise selbst lässt sich oft die Verbindung einer weltmännischen Haltung des Respekts gegenüber fremden Religionen mit derjenigen der abwertenden Polemik gegenüber Glaubensäußerungen konservativer Katholiken oder freikirchlicher Evangelikaler feststellen.

Unter der Voraussetzung, dass die Akzeptanz von Pluralismus im nicht so weit entfernten Umfeld ein wünschenswertes Lernziel nicht nur von Kindern und Jugendlichen darstellen sollte, könnte eine mögliche Zwischenetappe auf dem angestrebten Wege darin bestehen, den sozusagen „weltoffenen Ignoranten“ mit Phänomenen zu konfrontieren, die beides enthalten: das Exotische, das zu respektieren ihm keine Anstrengung mehr abverlangt, aber ebenso dasjenige, das irgendwie bekannt und gleichzeitig Objekt entschiedener, wenn auch nicht reflektierter Ablehnung ist.

Eine wertvolle Hilfe, die genannte Zwischenetappe zu meistern, könnte die Lektüre von Martin Mosebachs „Die 21“ bieten. Obwohl sicherlich nicht unter der soeben skizzierten Intention verfasst, entfaltet das Buch eine ihr entsprechende Spannung. Sie herrscht zwischen dem einen Pol des dem aufgeklärten Zeitgenossen nur scheinbar zu Genüge bekannten Christentums und dem anderen einer uns fremden und in Teilen vormodernen Kultur. Mosebach gelingt es, diese Kultur, die der christlichen Kopten – gemäß eigenem Selbstverständnis direkte Nachfahren der untergegangenen Pharaonendynastien – in einer schnörkellosen Sprache als das faszinierend Andere im Vergleich zum we,stlichen Lebens- und Glaubens- bzw. Nichtglaubens-Stil zu beschreiben, den europäischen Leser jedoch gleichzeitig spüren zu lassen, dass es zwischen ihm und dem Angehörigen der in der angestammten Heimat unter Druck geratenen Minderheit Gemeinsamkeiten gibt, die in die christliche Antike reichen, von deren Erbe, insbesondere was die Liturgie angeht, sich die Kopten im Gegensatz zum lateinischen Westen allerdings nicht so rigoros abgenabelt haben.

Neben der Liturgie, ihrer Lebendigkeit und Ursächlichkeit für die überraschend intensiv ausgeprägte Spiritualität der überwiegend in den ländlichen Regionen Oberägyptens lebenden gläubigen Kopten charakterisiert Mosebach – der Buchtitel lässt es anklingen – ein weiteres zentrales theologisches Prinzip des Christentums: das Martyrium. Sein literarischer Reisebericht widmet dabei jedem der am 15. Februar 2015 an der libyschen Küste enthaupteten koptischen Wanderarbeiter ein eigenes Kapitel. Den Leser wird die bedingungslose Hingabe der dem Tod Geweihten, wenn er in dem Buch mehr über die Umstände ihrer Ermordung erfährt, stark berühren; erstaunt wird er sein, dass die Angehörigen der Opfer das Geschehen mittlerweile nicht mehr als tragisches Unglück, sondern als Anlass zur Freude darüber, dass die betreffenden Familien einen Martyrer im Himmel haben, interpretieren. Dieser Umstand hilft zu verstehen, dass das von den mordenden Islamisten aufgenommene Video der Hinrichtung gerade auch von den Kopten verbreitet und angeschaut wird. Dessen Rezeption als Glaubenszeugnis fällt in eine Zeit, in der das koptische Christentum trotz der widrigen politischen Situation einen Aufschwung erfährt: Der Autor fand in den Dörfern „an Werktagnachmittagen in den Kirchen immer wieder Gruppen junger Leute, die sich zum gemeinsamen Beten getroffen hatten“, und stellte fest, dass in die neuen Klöster „viele Ärzte und Ingenieure“ als Aspiranten für das Mönchsleben strömen. Drei Stunden lange Messliturgien schrecken die Besucher der Gottesdienste nicht ab, sondern füllen die Kirchen.

Trotz der Ankündigung auf den ersten Seiten, dass „der Islam nur dann erwähnt werden (wird), wenn er die Lage der Kopten berührt“, durchzieht der Gegensatz zwischen den beiden größten religiösen Gruppen des Landes zumindest unterschwellig das Buch. Der skeptisch-melancholische Pessimismus seiner koptischen Interviewpartner wird nur durch die Wiedergabe von den westlichen Leser irritierenden Episoden gemildert, in denen von Marienerscheinungen, „die sich vor Tausenden von christlichen und muslimischen Zeugen ereignet haben“, oder von Aussagen der um das Gebet der Kopten bittenden Muslime („Euer Gott hört auf die Gebete und tut Wunder“) berichtet wird.

Martin Mosebach hat ein informatives und ergreifendes Zeitdokument vorgelegt; er weitet unseren Horizont und führt uns nicht zuletzt eindrücklich vor Augen, dass das Phänomen Christentum mehr beinhaltet als Katholizismus, Protestantismus und Orthodoxie.

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag. 2018
270 Seiten m. s-w Abb.
20,00 €
ISBN 978-3-498-04540-1

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