Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Martin Ramb / Holger Zaborowski: Jenseits der Ironie

Dialoge der Barmherzigkeit

Wer das Buch in die Hand nimmt und die Beiträge liest, bedauert sicherlich, dass das Jahr der Barmherzigkeit schon zu Ende ist. Denn ausgerüstet mit dem Wissen, das die Beiträge auszeichnet, hätte man ganz anders das Jahr der Barmherzigkeit begehen können. Der Titel ist sicherlich erklärungsbedürftig. Einer der Herausgeber (Holger Zaborowski) beendet die „Dialoge“ mit einem Beitrag, der dem ganzen Buch den Titel gegeben hat. Angesichts der Flüchtlingskrise und anderen Herausforderungen sind distanzierende ironische Selbstverliebtheiten und Bespiegelungen fehl am Platz. Was so nach Ansicht des Autors als kennzeichnend für die Postmoderne angenommen werden kann, wirkt zynisch angesichts der menschlichen Nöte. Barmherzigkeit wäre die richtige Antwort auf die Nöte der Zeit. Aber was bedeutet Barmherzigkeit? 

Martin Walser beginnt den Reigen der Antwortversuche: Liebe sei wechselseitiges Geben, Barmherzigkeit aber pures Empfangen. Patrick Roth glaubt an eine Sehnsucht, dass alle Menschen einmal Barmherzigkeit erfahren dürfen, das ist kompatibel mit der Ansicht Walsers, wenn man selber einmal in ausweglose Situationen kommt, nichts mehr geben und nur noch empfangen zu können. Es ist zu hoffen, dass dann genügend Menschen da sind, die Barmherzigkeit so verstehen wie der andere Herausgeber Martin W. Ramb: Barmherzigkeit hieße nämlich, Liebe tun. 

Der älteste Autor des Buches, der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser (*1925), ein Zeitzeuge fast eines Jahrhunderts menschlicher Not, findet kritische Töne, die so radikal sind, dass Gott selbst in seiner Allmacht und Güte ins Fadenkreuz seiner Kritik gerät: Ist Gott überhaupt fähig oder willens zur Barmherzigkeit? Ist die Welt das Resultat zweier Freiheiten, der des Menschen und der Gottes, oder überhaupt keiner? Ist sie das Produkt eines allmächtigen Zynikers, eines ohnmächtig Liebenden, oder ist alles noch anders zu verstehen und in welchen Kombinationen der genannten Mutmaßungen? 

Der im Jahr der Erscheinung des Buches verstorbene Rupert Neudeck war dagegen ein ganz und gar praktischer Mensch. Er verlangt schlicht: Barmherzigkeit muss man tun, auch den Menschen gegenüber, bei denen man Unbarmherzigkeit vermutet oder die tatsächlich unbarmherzig waren. Der Rechtswissenschaftler Michael Pawlik ergänzt die Theodizee Grossers durch eine Anthropodizee: Sozialethisch bzw. politisch sind wir nach gültigem und zugleich richtigem Recht abstrakt herausgefordert, allerdings konkret auf menschliche Nöte zu antworten und oft entgegen „richtigem und gültigem Recht“ barmherzig zu handeln. Auch Gerd Neuhaus hat diese Widersprüche als Lehrender bemerkt, wenn er feststellt, dass Schüler sein barmherziges Handeln schon einrechnen und erwarten – und dadurch barmherziges Handeln unmöglich machen. 

Bruno Galasek-Hul und Markus Hilgert weiten den Blick: Ersterer löst aus buddhistischer Perspektive die Barmherzigkeit vom Individuum ab zu einer mundan-kosmischen Tugend; letzterer entdeckt sie schon im Gilgamesch-Epos und löst sie aus einer allgemeinen Menschennatur heraus und will sie übersetzbar machen über alle Kulturen und Zeiten hinweg. Ein weiterer Blickwinkel aus der Semitistik durch Ulrike-Rebekka Nieten zeigt eine bis dahin noch nicht angesprochene Konfliktlinie: Barmherzigkeit bedeute, dass im Konfliktfall Caritas dem Kult vorzuziehen sei: Jesus selbst sei hier der Protagonist, der den Esel am Sabbat aus der Grube holte, während die Essener definitiv der kultischen Verehrung Gottes den Vorzug gaben und eben jenes verboten. Dass dies heute noch ein Konfliktfall sein kann, zeigt ein merkwürdiges Wort von Karl Rahner, dem man dieses am wenigsten zugetraut hätte gegen Ende seines Lebens: „Unsere größte Sorge: daß Gott angebetet und geliebt wird“. 

Für das Mitglied des äthiopischen Kaiserhauses Asfa-Wossen Asserate kann „Barmherzigkeit nur hierarchisch von oben nach unten gewährt werden“. Barmherzigkeit wäre dann unmöglich, wenn alle – wie heute landauf, landab gefordert wird – auf Augenhöhe sein möchten. Aber genau das ist die ursprüngliche Bedeutung des hebräischen Urwortes für Barmherzigkeit, die Wortwurzel von Mutterschoß. Gemeint ist nämlich die Liebe eines Höheren zu einem Niederen. 

Göttingen: Wallstein Verlag. 2016
342 Seiten mit farb. Abb.
19,90 €
ISBN 978-3-8353-1907-3

 

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