Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Martin Tamcke: Achtsamkeit in jedem Atemzug

Es klingt einfach, aber sich auf seinen Atem zu konzentrieren will trainiert sein. Zumindest lehren dies viele Meditationsschulen, die an den Anfang einer jeden Übung die bewusste Beobachtung des natürlichen Atemrhythmus stellen: als Schlüssel, der den Zugang zu mehr Achtsamkeit im Blick auf sich, auf seine Gedanken und auf die Mitmenschen eröffnet.

Diesen Ansatz legt auch Martin Tamcke, Professor für Ökumenische Theologie und Orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Göttingen, der vorliegenden Kleinschrift zugrunde, die erstmals 2007 erschienen ist: Er will, so sagt er es im Nachwort, aus dem großen Meer der ostkirchlichen Tradition einige Tropfen Spiritualität für Wissensdurstige schöpfen und Interesse wecken für den Reichtum des „byzantinischen Yoga“ (so der werbende Klappentext).

Das schmale Buch, das sich als Ein- und Hinführung versteht, gliedert sich in drei Kapitel, in denen zentrale Kennzeichen und Formen orthodoxer Spiritualität aufgegriffen werden: Ikonen, Herzensgebet, Starzen. Das erste Kapitel betrachtet die Quellen der Tradition und skizziert geschichtliche Entwicklungslinien zwischen Bilderverbot und Bildverehrung, Bilderstreit und den Ursprung der Ikonenmalerei. Die Ausführungen über die Malerhandbücher zeigen, dass es in den Auseinandersetzungen nicht allein um die richtige Technik und Kunstfertigkeit geht, nicht nur um die theologische Ausdeutung der Formen und Farben. Vielmehr erfährt die Lebensordnung des Ikonenmalers größte Beachtung, denn vor dem Hintergrund der biblischen Botschaft gewinnt auf der Ikone nur das Kontur, was der Maler selbst glaubt und gläubig praktiziert.

Das zweite Kapitel reflektiert die Entstehungsgeschichte des sogenannten Jesus- bzw. Herzensgebetes, das zu den eindrücklichsten Gebetsweisen der Ostkirche gehört. Die Ausführungen sind detail- und kenntnisreich. Beispiele zur Gebetsmethode werden exemplarisch und bündig erschlossen, Fachbegriffe (Hesychia, Philokalie u.a.) geschichtlich verortet.

Die Rolle der Seelenführer und Starzen betrachtet das dritte Kapitel. Als Urmodell geistlicher Wegbegleitung stellt Tamcke die Tradition der Wüstenväter vor, deren Lebensweisheiten und Erfahrungen in den Vätersprüchen, den Apophthegmata Patrum, überliefert sind. Dabei handelt es sich um Antworten auf Fragen, die in einer meist pointierten und provozierenden Formulierung zum Nach- und Umdenken anregen. Die gegebenen Antworten reichen von schroffen Zurückweisungen bis hin zu überraschenden und amüsanten Wendungen voll gütiger Zuneigung und Anteilgabe am Innersten der Seele: „Wenn du Ruhe finden willst, hier wie dort, dann sprich bei jeder Handlung: ,Ich – wer bin ich?‘ und richte niemanden!“

Die vorliegende Kleinschrift gewährt einen ersten und lebendigen Einblick in den Reichtum der ostkirchlichen Spiritualität. Sie geht in knapper Erzählweise den frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklungen nach, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Jedes Kapitel schließt mit ausgewählten Literaturhinweisen, die zur Vertiefung einladen. Denn die Beschäftigung mit orthodoxer Spiritualität, so resümiert Tamcke, ist vor allem ein Gespräch mit den Texten.

 

Kevelaer: Verlagsgemeinschaft topos plus. 2. Aufl. 2015

124 Seiten

8,95 €

ISBN 978-3-8367-0616-2

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