Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Martin Werlen: Zu spät

Von dem im Jahr 2017 verstorbenen Prager Erzbischof und Kardinal Vlk ist der Satz überliefert, er sei der glücklichste Bischof der Welt, weil er nichts mehr kaputtmachen könne. Für Martin Werlen, den ehemaligen Abt des Klosters Einsiedeln, spiegeln sich in diesem Bonmot die eigentliche Situation und die alt-neue Aufgabe der Kirche, nämlich sich neu auf die Suche nach den Menschen zu begeben, statt die institutionellen Restbestände und die dogmatischen Formelsammlungen des katholischen Glaubens in Verwaltungsbeamtenmanier korrekt zu archivieren.

Werlens Schrift besteht bei genauerer Betrachtung aus zwei Manuskripten. Die Ende 2012 veröffentlichte Broschüre „Miteinander die Glut unter der Asche entdecken“ hat der Autor noch als Abt und Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz verfasst. In dieser hier noch einmal abgedruckten Reformagenda finden sich klassische und neuere Forderungen, von denen immerhin einige kurze Zeit später durch Papst Franziskus als diskurswürdig anerkannt worden sind.

Auf den Seiten davor und danach versammelt der Autor autobiographische Angaben, Eindrücke von Begegnungen mit Menschen, daran anknüpfende Gedanken zur Lage des Glaubens sowie eine harsche Kritik an den kirchlich Verantwortlichen, die den Aufbruch des letzten Konzils versanden lassen und ein „konditioniertes Christentum“ geformt hätten. „Zu spät“ heißt: Die empirische nachkonziliare kirchliche Verfasstheit lässt sich nicht mehr retten.

Die zweite Hälfte des Buches bildet eine Meditation des alttestamentlichen Jona-Büchleins. Hier geht es nicht mehr um Reform und Reförmchen, sondern um eine Neujustierung der Gaubensgrundlagen und um ein Plädoyer, neu auf die Welt zu hören. Jona sei ein Stück „Evangelium“ im Alten Testament, das Umkehr nicht nur von den in „der Welt“ Lebenden fordere, sondern auch und zuvörderst von den vermeintlichen Wahrheitsbesitzern. Eine Kirche, die nach „Ninive“, also zu den aus katechismus-katholischer Sicht verlorenen Menschen mit ihren Sorgen und Sehnsüchten geht, verändert sich. Sie setzt inhaltlich und pastoral andere Schwerpunkte als eine Kirche, die das Abendland retten möchte. Das alles erinnert an die Feldlazarett-Metapher von Papst Franziskus, der für Werlen ein Hoffnungsanker ist, Kirche jenseits des sektiererischen In-Group- und Societas-perfecta-Denkens zu erneuern. Für Werlen ist klar: Glaube und Umkehrbereitschaft sind außerhalb der Kirchenmauern eher anzutreffen als innerhalb. Voraussetzung ist: Man versteht unter Glaube nicht nur die Inhalte der Überlieferung, sondern elementarer noch die Sehnsucht nach Ganzheit und die Hoffnung auf Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz.

Der Leser würde den Anspruch des Buches überdehnen, wenn er ein Konzept für die notwendige katholische Reformation erwartete. Eher geht es Werlen um die Wahrnehmung des Kairos. Das „Fünf-vor-Zwölf“-Denken verhindere die Neuinterpretation der Gegenwart, es hänge am Alten. Ein Freiheitsgewinn sei hingegen mit der Haltung des „Fünf nach Zwölf“ verbunden, erst sie gebe der Hoffnung neu eine Chance.

Es ist Aufgabe der Ordensangehörigen, dem verbürgerlichten und verrechtlichten Christentum den Spiegel vorzuhalten. Woher sollten die prophetischen Worte denn sonst kommen, wenn nicht von diesen freien Vagabunden? Da darf dann das eine oder andere auch einmal wiederholt werden.

Eine Provokation für die Kirche
Hoffnung für alle

Freiburg: Herder Verlag. 2018
192 Seiten
18,00 €
ISBN 978-3-451-37519-4

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