Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Meltem Kulaçatan / Harry Harun Behr (Hg.): Migration, Religion, Gender und Bildung

Der Sammelband „Migration, Religion, Gender und Bildung. Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität“ entstand als Ergebnis der Jahrestagung 2017 des Rates für Migration. In diesem Netzwerk haben sich 160 Migrationswissenschaftlerinnen und Migrationswissenschaftler zusammengeschlossen. Dabei verwahren sich die Herausgeber in Ihrem Vorwort gegen den Vorwurf, „intersektionale Perspektiven seien ‚linke Wissenschaft‘“. Vielmehr trauen sie gerade diesem Ansatz zu, „das menschliche Subjekt in seiner Beunruhigung in den Blick [zu nehmen], und dies in einer Zeit, in der Menschen vermehrt in Merkmalskollektive verpackt werden und in der deren Erfahrungen und Befürchtungen einfach in Abrede gestellt werden“ (11). Daher möchte der Band gesellschaftliche Debatten um das Thema Migration aufgreifen, ergänzt um „neue sinnvolle Verbindung[en] von Sichtweisen, sie sich gegenseitig einiges zu sagen hätten“ (12), und somit das Thema Migration (und Flucht) aus verschiedenen Perspektiven und anhand unterschiedlicher Schwerpunkte (Religion – insbesondere Islam, Gender und Bildung) erörtern.

Der erste Beitrag von Harry Harun Behr versteht sich als Grundlagenbeitrag, indem er das Verhältnis von Religionszugehörigkeit, Gender und Bildung an Hand verschiedener medialer Diskurse, wie dem um die Kölner Silvesternacht, in Erinnerung ruft. Zudem kritisiert er, dass wie im Diskurs um die Ereignisse in Köln auch im schulischen Kontext die Trias männlich, muslimisch, Migrationshintergrund, primär als defizitär und problembehaftet wahrgenommen wird, ohne dass die Forschungen hierzu einen wirklichen Bezug zu Religion und Bildungserfolg in den Blick nehmen würden und damit den vielleicht positiven Beitrag von Religion auf Bildungsbiographien. Hieraus leitet er seine Forderung nach einer „intersektionalen Schulreform“ ab, welche sich u.a. durch eine „grundsätzliche Wertschätzung von Ausdrucksformen spiritueller beziehungsweise religiöser Lebensstile“ auszeichnet und dabei Fragen der Geschlechteridentität mit besonderem Bezug zu den Queer Studies und kritischer Männlichkeitsforschung sowie die Dekonstruktion von Narrativen der „fremden Frau“ und des „fremden Mannes“ in den Blick nimmt.

Der Beitrag vonYasemin Karakaşoğlu schließt an den Beitrag von Harry Harun Behr an, in dem er noch einmal ausführlich das Narrativ von „Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen“ aufgreift und dabei die Forderung erhebt, dass auch Pädagoginnen und Pädagogen ihre eigenen Vorstellungen von dem Islam im Sinne einer Religious Literacy kritisch reflektieren.

Der dritte Aufsatz von Andrea Hertlein und Rudolf Leiprecht zeigt am Beispiel eines Pilotprojektes an der Universität Oldenburg zur Integration Geflüchteter, welchen Schwierigkeiten diese Studenten ausgesetzt sind, indem u.a. ihre Herkunft nicht als Ressource anerkannt wird und sie zudem einem unterschwelligen Rassismus ausgesetzt sind. Auch der nächste Beitrag von Andrea Petö widmet sich dem universitären Umfeld und zeigt die Schwierigkeiten der Wissens- und Forschungsfreiheit an derCentral European University in Budapestauf, welche sich nach der Änderung der Hochschulgesetze durch die konservative Regierung in Ungarn ergeben.

Der fünfte Beitrag vonPaul Mecherilund Monica van der Haagen-Wulff schließt inhaltlich wieder an die ersten drei Beiträge des Bandes an, indem er auf die Bedeutung der Konstruktion homogener Gruppen zur Vergewisserung des eigenen Selbst hinweist und dabei die rassistischen Grundmuster bei gleichzeitiger Leugnung derselben durch die vermeintliche Mehrheitsgesellschaft, die damit einhergehen, belegt.

Christiane Harz ergänzt diese Ausführungen und erläutert in ihrem Beitrag „Fluchtmigration in den Medien. Stereotypisierungen, Medienanalyse und Effekte der rassifizierten Berichterstattung“ u.a. an Hand des Framing-Begriffes, dass auch hier der Diskurs noch oft von „Kulturalismus, Ethnosexismus, Sicherheitsdebatten und Ausgrenzungsdebatten“ geprägt ist. Einen Ausweg sieht sie in der Analyse von Inhalt und Akteuren sowie der Diversifikation der Medienlandschaft.

Der Aufsatz von Helma Lutz, „Rassismuskritische Perspektiven auf Gender und Migration. Eine intersektionelle Analyse“ stellt die Frage nach der Entwicklung rassistischer Stereotype der unterdrückten muslimischen Frau auf der einen wie des muslimischen Mannes als Aggressor auf der anderen Seite. Verdienstvoll ist es, dass sie sich nicht nur auf Beispiele der jüngsten Vergangenheit wie Köln bezieht, sondern die Stereotype in ihren historischen Kontext verortet, und ihre Verbindungen zu anderen Diskursen wie der „MeToo“-Debatte aufzeigt.

Im achten Beitrag des Bandes, „Gender- und asylpolitische Aushandlungen rund um Schutz und Integration in der aktuellen Ausnahmesituation“ zeigen Sabine HessundJohanna Elle auf, wie das Thema Gleichstellung bei der Integration von Geflüchteten Gefahr läuft, „zur dominanten Messlatte [zu werden], mit der über die Integrationsfähigkeit von Migrierten und letztlich über ihre Erwünschtheit geurteilt wird“ (236f).

Im Aufsatz von Gökce Yurdakul „Jews, Muslims and Religious Challenges to the European Institutions: The Headscarf and Ritual Male Circumcision Debates“ erläutert dieser an Hand der für die Mehrheitsgesellschaft verblüffenden Kooperation von jüdischen und muslimischen Gruppen in der Beschneidungs- und Kopftuchdebatte, wie es gelingen kann, diese nicht als Problematik einer Minderheit, sondern als Teil eines gesamteuropäischen Diskurses zu verankern.

Der zehnte Beitrag mit dem Titel „Imamin, Migrantin, Wanderin. Weibliche Repräsentanz und Religion im transnationalen Raum Deutschland – Türkei“vonBetül Karakoç gewährt einen Einblick in die Situation von Imaminen und ihrer Situation in Deutschland. Dabei zeigt sie auf, dass diese, obwohl Frauen die Mehrheit an den theologischen Fakultäten stellen, in den Führungspositionen deutlich unterrepräsentiert sind, und verdeutlicht die Heterogenität der interviewten Frauen hinsichtlich ihrer Ansichten zu Gender, Migration und Religion.

Der vorletzte Aufsatz des BuchesZwei intersektionale Narrative zu Religion und Gender“ von Frank van der Velden behandelt zwei Narrative der identitären rechten und identitären islamistischen Szene, die beide auf die Ausgrenzung des jeweils als „anders“ Empfundenen abzielen. Van der Velden dekonstruiert diese Erzählungen, stellt ihnen Gegennarrative entgegen und plädiert dafür, diese als Gegenstand des interreligiösen Lernens zu nutzen.

Den abschließenden Beitrag hat Meltem Kulaçatan mit „Gender und Religion. Annäherung an religiöse Positionierungen im Kontext muslimischer Lebenswelten“ verfasst. Hier versucht sie die Konfliktfelder, in denen sich muslimische junger Menschen bewegen, zu skizzieren. Zudem mahnt die Autorin an, dass Forschung zu muslimischen Themen sich nicht nur auf defizitorientierte Fragestellungen fokussieren darf. Dabei betont sie noch einmal das „Ungleichgewicht zwischen der Wissensproduktion über Muslim*innen und dem fehlenden Wissen über ihre Lebensrealitäten“ (323).

Selbst wenn nicht alle Beiträge vollkommen zu überzeugen vermögen, so stellt dieser Band dennoch einen wertvollen Beitrag zur Migrationsdebatte dar, verdeutlicht er doch gerade in den Beiträgen von Behr, Karakaşoğlu, Harz, Lutz, Elle, Hess und Kulaçatan die Berechtigung des intersektionalen Ansatzes innerhalb dieses Diskurses. Sie skizzieren einen „Ist-Zustand“ der Debatte und der Verhältnisse in Deutschland, was in der teils präzisen Analyse sicher eine Stärke des Bandes darstellt. Die Fokussierung auf den Islam als entscheidendes Ausgrenzungskriterium hat angesichts der damit verbundenen Debatten bezüglich Flucht und Migration sicher ihre Berechtigung, dennoch hätte die Rezensentin sich zumindest einen Beitrag gewünscht, der noch weitere Kriterien in den Blick nimmt.

Zu kurz kommt allerdings hier der eigentliche Diskurs darüber, welche Konsequenzen wir für unsere Gesellschaft ziehen möchten. Welchen Stellenwert hat Religion in heterogenen Gesellschaften? Wie kann es gelingen, die eigenen eingeübten Rassismen zu hinterfragen? Wie gelingt der angemahnte Diskurs auf Augenhöhe? Wie leben wir in einer heterogenen Gesellschaft mit all den daraus resultierenden Konflikten zusammen? Wie lassen sich diese aushandeln? Wie gelingen Partizipation und Teilhabe bei ungleicher Ressourcenverteilung? Hier bieten die Aufsätze von Behr, Hertlein, Yurdakul, Leiprecht und Horz Ansätze, die es weiter zu verfolgen gilt und von denen die Verfasserin der Rezension hofft, noch mehr zu hören.

Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität
Bielefeld: transcript Verlag. 2020
326 Seiten
35,00 €
ISBN 978-3-8376-4451-7

Zurück