Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Braun: Probebohrungen im Himmel

Hannah Arendt entwarf in ihrem Umgang mit der abendländischen Ideengeschichte das von ihrem Freund Walter Benjamin inspirierte Bild des Perlentauchens. Arendt beschreibt damit einen Modus, sich die Perlen bisherigen fortschrittlichen Denkens für den eigenen Blick auf die Welt nutzbar zu machen und damit Denkmöglichkeiten und Sprachbilder zu entfalten, die ein neues Licht auf unsere heutigen Erfahrungen werfen können. Geleitet war Arendt dabei von dem Gedanken, nicht durch einen brachialen Bruch mit der Ideengeschichte, sehr wohl aber durch einen kritischen Umgang mit der überkommenen Autorität der Überlieferung im Tauchen nach Perlen gegenwärtige Entwicklungen aufmerksam wahrzunehmen, kundig einzuordnen und letztlich den Versuch zu wagen, diese zu verstehen.

Mit seinem umfangreichen Band „Probebohrungen im Himmel. Zum religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur" erweist sich Michael Braun als ein tiefgehender und inspirierender Perlentaucher im Sinne Hannah Arendts. Mit einer Vielzahl an ausführlichen Einzelanalysen erarbeitet Braun, Leiter des Referats Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität Köln, literaturwissenschaftlich sowie theologisch höchst versiert, wie religiöse Sujets in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bisweilen leise, aber doch unüberhörbar von verschiedenen Autorinnen und Autoren zum Klingen gebracht werden. Dabei ist es die entschiedene Stärke des Bandes, religiöse Themen und Figurationen in der gegenwärtigen Literatur nicht bloß abstrakt zu benennen, sondern ebenso die Gottesfrage in ihrer unterschiedlichen Dimensionalität als Motiv der Literatur ausfindig zu machen. Für den Verfasser, der die Gegenwartsliteratur mit guten Gründen vor etwa 25 Jahren beginnen lässt, kehrt Gott in dichterischer Sprache zurück, er wird wieder relevant, aber eben nicht in der bisweilen ausgehöhlten Formelsprache von Kirche und Theologie – sondern kunstvoll in Formen der Poesie.

Der Band, der Beiträge des Autors in Kontexten unterschiedlicher Vortragsgelegenheiten versammelt, gliedert sich in zwei weit umfassende Kapitel, die mit den rätselhaft anmutenden Begriffen „Dimensionen" und „Orte" überschrieben sind. Während innerhalb des ersten Kapitels vor allem in phänomenologischer Perspektive Motive und Konfigurationen des Religiösen und der Gottesfrage dargestellt werden, sind es im zweiten Teil besonders Autorinnen und Autoren der Gegenwart, deren literarische Texte im Ringen um religiöse Sprache und die Sehnsucht nach dem, was über das Vorfindliche der Welt reicht, vorgestellt werden. Damit umfasst der Band neben einer Einleitung 22 Einzelbeiträge, die den religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur aufzeigen und analytisch interpretieren. Die dargestellten literarischen Beispiele unterscheiden sich in Gattungen und zeitlicher Verortung, bestimmende Leitkategorie bleibt aber durchgehend die religiöse Musikalität der Texte. Der Verfasser stellt beispielsweise neben Erzählungen von Ralf Rothmann, Romanen von Günter Grass, Martin Walser oder Patrick Roth Gedichte von Hilde Domin, Erich Fried oder Jan Wagner vor, in denen religiöse Fragen und Erfahrungen in ästhetische Weiten transformiert werden. Staunend erfährt der Leser dabei, wie spielend leicht Braun Denkfiguren und sprachliche Wendungen aus Literatur-, Theologie-, und Philosophiegeschichte in seine dichten analytischen und interpretatorischen Texte verwebt.

Mit dieser gewichtigen und lesenswerten Studie wird deutlich, wie die fremdprophetische Stimme der Literatur religiöse Fragen und Erfahrungen umkreist, zu verstehen sucht und niemals der Gefahr erliegen will, diese zu dogmatisieren. Für Braun ist es die poetische Sprache selbst, die religiöses Sprechen in der Literatur des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts überhaupt erst wieder unverdächtig und damit glaubwürdig werden lässt. Wie passend und schön, dass der Autor bei aller wissenschaftlichen Genauigkeit innerhalb seiner Probebohrungen im Himmel, deren Titel eine Anleihe aus einem der vielleicht schönsten Gedichte des zeitgenössischen Lyrikers Jan Wagner ist, selbst immer wieder gekonnt zu poetischen Formulierungen greift.

Präzision, Eleganz und Leichtigkeit der Formulierungen zeichnen diesen einnehmenden Band aus, der anregt, religiöse Sujets und die umtreibende Gottesfrage nicht in tradierten Formen finden zu wollen, sondern gleichsam nach Perlen tauchend diese in der Gegenwartsliteratur neu zu entdecken.

Zum religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur
Freiburg: Herder Verlag. 2018
269 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-451-38091-4

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