Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Kühnlein: Wer hat Angst vor Gott?

Über Religion und Politik im postfaktischen Zeitalter

Michael Kühnlein, Dozent am Institut für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt a.M., sieht im Blick auf das Projekt der Moderne zwei vielen Einzelaussagen vorausgehenden Hintergrundüberzeugungen am Werk: auf der einen Seite eine emanzipatorische Weltsicht ohne Gott mit Bildern von Immanenz, Befreiung und Selbstermächtigung, auf der anderen Seite eine tradierte religiöse Weltsicht mit Bildern von Transzendenz, demütigem Glaubensgehorsam und Selbstbegrenzung. Unheilvoll ist dieser Konkurrenzkampf für die Moderne dadurch, dass jede Partei für sich eine Existenzberechtigung nur darin zu sehen vermag, die andere triumphalistisch niederzuringen, anstatt komplementäre Lernprozesse einzugehen – ein selbstzerstörerisches Desiderat, zumal in einer sich weltanschaulich globalisierenden Gesellschaft, die eigentlich nur im Modus der Toleranz wird gedeihen können.

Die Genese der neuzeitlichen Welt ist nicht nur eine Erfolgs-, sondern zugleich eine Leidensgeschichte. S. Freud buchstabiert ja das Vorwärts der Emanzipationsgeschichte aus überkommenen Zwängen auch rückwärts – als Sequenz fortgesetzter narzisstischer Kränkungen des aufgeklärten Egos. Die neuzeitliche Revolution der alten Weltbilder entpuppt sich als Verdrängung des Menschen aus seiner ehemals superioren sicherheit- und heimatverleihenden Zentralposition ins exzentrisch-randständige Abseits. Kosmologisch verweist Galilei den Menschen aus der metaphysischen Mitte des Universums. Darwin nimmt in biologisch-evolutionärer Perspektive der Menschheit die Krone der Schöpfung. Freud schließlich raubt qua Tiefenpsychologie dem Bewusstsein des homo sapiens die Illusion, er sei denkerisch souverän-rational strukturiert. Diese marginalisierenden Demütigungen lassen den prometheisch Vorwärtsstürmenden gekränkt und entfremdet zurück. Kühnlein nennt ihn in Anspielung an Goethes Faust-Tragödie über die Licht- und Schattenseiten der neuzeitlichen Revolution in Wissenschaft und Gesellschaft den „metaphysisch Unbehausten“ (11).

Dieser heimatlose Unbehauste muss sich in der entgötterten Welt auf die Suche nach provisorischen Orientierungsmarken machen – etwa mit naturalistischen Welterklärungskonzepten, die mit deterministischem Szientismus das Bedürfnis nach (verlorengegangener) Sicherheit zufrieden stellen sollen. Vor allem darf es zu keinem Rückfall in alte, überwunden geglaubte Illusionen kommen, vielmehr soll umso lauter die Froh-Botschaft vom „Tode Gottes“ (F. Nietzsche) verkündet werden. Wäre da nur nicht die tiefsitzende Angst der liberalen Freiheitskultur vor der Wiederkehr des Religiösen, die am Siegesbewusstsein des heroisch um die endgültige Freiheit kämpfenden Rebellen kratzt. Der bohrende Zweifel, dass die Parusie des weltimmanent-endgültigen Reiches der Freiheit noch im Bereich lebensweltlicher Naherwartung sich vollziehen möge, nagt am Unbehausten und erzeugt neben ständiger Angst offene zornig-wütende Antipathie gegen nicht zu leugnende Tendenzen einer Renaissance des Gottesglaubens im globalen Maßstab. Gegen den überkommenen Mono-Theismus tritt in trotziger Selbstbehauptung ein „elitärer Mono-Atheismus“ (21) auf, der auf die nicht nur religionskritische, sondern religionsfeindliche Karte: „ut deus non daretur“ setzt. Diese Verachtung lebt letztlich von der bloßen Freiheit von …, in unversöhnlicher Abgrenzung zum Religiösen. Der Unbehauste als Virtuose der bloßen, leeren Verneinung wird hier mit einer Denkfigur Hegels kritisiert: Eine Negation, die sich der reflektiven Abhängigkeit vom Negierten nicht bewusst ist, ist unproduktiv, ja destruktiv. So geriert sich öffentlichkeitswirksam in vielen Äußerungen ein expliziter Religionshass.

Kühnlein diagnostiziert diesen unreifen Umgang mit dem gefürchteten Schreckgespenst der Wiederkehr der Religion als vierte narzisstische Kränkung des modernen Subjekts. Das fatale Gesamtbild der gegenwärtigen Situation ist für den Autor allerdings erst zureichend beschrieben, wenn auch von der spiegelbildlichen Kehrseite der Medaille in Sachen Gottesglauben die Rede ist: Gegen die säkulare Angst vor Gott (Regression in doch eigentlich überwundene infantile Frömmigkeit) steht die religiöse Angst vor Gott, die fürchtet, durch Ungehorsam der Gnade Gottes verlustig zu gehen. Kühnlein nennt diese dogmatischen religiösen Traditionalisten die „Schwarzmänner“ (48), als deren Archetypus die gewaltaffine Narration der Gestalt des Abraham firmiert, der für bedingungslosen Glaubensgehorsam steht. Diese restaurativen Schwarzmänner ziehen die Zugbrücken ihrer Glaubensfestungen hoch – nicht nur, weil sie annehmen, der Libertinismus des „anything goes“ würde alle moralischen Dämme brechen lassen; sie erkennen auch instinktiv die Sinnleere und Trostlosigkeit serieller Massenversprechungen des aufgeklärten Säkulums. Für den religionslosen Menschen der post-christlichen Zukunft ist scheinbar alles beliebig wählbar, vergeblich sucht man nach existentiellen Überzeugungen, denen treu zu sein es sich lohnen würde. Zudem vermag der propagierte Fortschrittsoptimismus auf immerwährende anthropologische Problem- und Konfliktlagen wie die Gewalt- und Schuldverstricktheit der conditio humana keine befriedigenden Antworten zu formulieren.

Soweit die Situationsanalyse des Textes – betreffs Lösungsperspektiven hält sich der Autor kürzer, was angesichts der von ihm gewählten Textgattung „Essay“ legitim ist. Prinzipiell plädiert Kühnlein dafür, neue versöhnliche Wege in kritischer Gewaltenteilung zwischen tradiertem Gottesglauben und aufgeklärter Vernunft zu bahnen, dies entspräche dem Charakter der Moderne als offenes dynamisches Projekt. Vernunft bleibt „auf die arbeitsteilige Kooperation“ (44) mit dem Religiösen als „Bewusstsein von dem, was fehlt“ (vgl. J. Habermas) weiterhin angewiesen. In dieser gesprächsbereiten Perspektive kann Kühnlein zu Recht als letzten Satz seines Büchleins schreiben: „Wer sollte da noch Angst vor Gott haben?“ (90)

Summa summarum analysiert der Autor die Widersprüche und Unausgegorenheiten in religionsfeindlichen Affekten vieler „unbehauster“ Zeitgenossen erfrischend frei von den Fesseln pseudo-korrekter Sprachschablonen im öffentlichen Meinen und Sagen. Hierbei ist er als Vertreter der politischen Philosophie ein der einseitigen theologischen Parteilichkeit unverdächtiger Zeitzeuge, der helfen kann, unproduktive Sackgassen zu verlassen.

Was bedeutet das alles?
Stuttgart: Reclam Verlag. 2017
95 Seiten
6,00 €
ISBN 978-3-15-019423-2

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