Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael N. Ebertz: Entmachtung. 4 Thesen zu Gegenwart und Zukunft der Kirche

Die Soziologie steht seit jeher im Verdacht, das Spiel um des Kaisers Kleider nicht mitzumachen, sondern die Dinge beim Namen zu nennen: Rolle, Beziehung, Macht, kulturelles Kapital, Eigeninteresse, Inklusion und Exklusion. Organisationen auf Interessen und Funktionsbeziehungen hin zu untersuchen kann symbolisch aufgeladene Systeme in die Krise stürzen – allerdings nur dann, wenn diese ihre Legitimation ohnehin schon eingebüßt haben, machtverschleiernde Metaphern des Commitments nur noch Kopfschütteln auslösen und Zynismus sowie Fluchttendenzen unübersehbar geworden sind.

Der katholische Theologe und Soziologe Michael Ebertz beschäftigt sich schon seit langem mit dem schwindenden Macht- und Drohpotenzial der Amtskirche sowie der schleichenden Erosion von Loyalitäten diesseits und jenseits administrativer Zugriffsrechte. In seinem neuesten schmalen Bändchen fragt er, wie religiöse Verkündigung und Daseinsvorsorge, aber auch Legitimationsgenerierung ohne die klassischen Instrumente der an traditionelle Familienkulturen und Milieubeziehungen angedockten „Reproduktionskirche“ aussehen kann.

Nach einleitenden Überlegungen zur Semantik des Machtbegriffs zeichnet er den Machtwechsel in der Beziehung zwischen Gläubigen einerseits und legalistisch ausgerichteter Klerisei andererseits nach und erteilt Ratschläge, wie eine zukunftswillige Kirche der ihr zivilisatorisch überlegenen Gegenwartskultur mit ihrer freiheitsgarantierenden Multioptionalität begegnen müsste. Ebertz plädiert dafür, eingefahrene Denkstile zu überwinden und „im kirchlichen Feld Arenen der Multiperspektivität zu implementieren“ (114), um Lernen der Kirche auf Dauer zu stellen. Dabei fokussiert er nicht auf Glaubensfragen im engeren Sinne, sondern auf den Themenkreis Ehe, Familie, Geschlechterordnung und Religionsunterricht, also die Klassiker der religiösen Sozialisation, sowie die Arbeit der Caritas. Dem Autor geht es um die Öffnung eines ideologisch geschlossenen und rechtlich-normativ erstarrten Herrschaftsverbandes, der sich seit zwei Jahrhunderten primär mit der Abwehr des Fremden und der Stabilisierung des eigenen Systems beschäftigt. Ebertz´ Plädoyer, Kirche osmotisch zu definieren, Loyalitäten zu verflüssigen und kirchliche Tätigkeitsfelder entsprechend neu zu konzipieren, legitimiert – darauf macht der Autor anhand von Beispielen aufmerksam – ohnehin im Gang befindliche Umstrukturierungen. Anhand bischöflicher Verlautbarungen macht Ebertz deutlich, wie geschmeidig ehemals erratische Normierungen (Sonntagsgebot, „Mischehen“-Verbot, Verpflichtung zu Taufe und katholischer Kindererziehung, Loyalitätsnachweis in kirchlichen Beschäftigungsverhältnissen etc.) semantisch zu „Einladungen“ umcodiert werden. Die Kirche der Zukunft wird, so Ebertz, u. U. eine „Kirche ohne Gläubige“, aber eine „Kirche mit Stellen“ sein (82) – ein Dienstleistungsunternehmen, das Kontingenzen bearbeitet und als „Friedensmacht“ an der Zivilisierung der Gesellschaft mitarbeitet.

Das Buch verdankt sich innerkirchlichen Zusammenhängen, wendet sich also primär an Verantwortungs- und Entscheidungsträger in den Generalvikariaten und den kirchlichen Dienstleistungsbereichen sowie an interessierte Nichttheologen, die auf Akademietagungen Aufklärung über die Mechanismen erbitten, die für die Implosion der katholischen Kirche in Anschlag zu bringen sind. Es wäre deshalb unfair, Ebertz die Wiederholung längst bekannter Diagnosen vorzuwerfen. Auch er weiß, dass im synodalen Prozess Fragen und Aufgaben bearbeitet werden, die seit fünfzig Jahren hätten geklärt bzw. gelöst sein müssen. Gleichwohl darf gefragt werden, ob er seinen organisationssoziologischen Empfehlungen nach „Differenzakzeptanz“, „Denkstilumwandlungen“ und „Prozeduralisierung“ Erfolg verheißt oder ob hier die anlassbezogene, auf Motivation abzielende Vortragstätigkeit vor Kirchen- und Caritas-Verantwortlichen die Feder geführt hat. Zwischen der ernüchternden sozialwissenschaftlichen Bestandsaufnahme im ersten Teil des Buches und den „Ausblicken“ ab Seite 87 klafft doch eine beträchtliche Lücke. Wo sollen angesichts der Milieuverengung sowie der mitten im selbstzerstörerischen Kulturkampf befindlichen Hauptamtlichen-Kirche die Subjekte des Umsteuerns herkommen? Und wer benötigt noch eine Organisation, die angesichts der „hohen Hintergrundunsicherheit“ bezüglich ihrer Grundannahmen (Luhmann) offensichtlich selbst nicht mehr definieren kann, was sie jenseits eines kulturellen und sozialen Serviceangebots der bürgerlichen Gesellschaft noch anbieten soll?

Ostfildern: Patmos Verlag. 2021
160 Seiten
19,00 €
ISBN 978-3-8436-1266-1

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