Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Zichy: Die Macht der Menschenbilder

Über Menschenbilder zu räsonieren oder gar eines zu haben, gilt vielen Zeitgenossen als hoffnungslos antiquiert und längst überholt – allenfalls Stoff für salbungsvolle Sonntagsreden. Schon Freud kanzelte (heute: „canceln“) drei anthropologische Großerzählungen als selbstverliebte Allmachtsphantasien der abendländischen Tradition ab: Erstens eine kosmologische Wahnvorstellung, die vermeinte, der Mensch stünde im Zentrum des Weltalls; spätestens Kopernikus belehrte uns eines Besseren. Zum Zweiten destruierten Darwin & Co. die narzisstische Annahme, wir wären die Krone der Schöpfung. Drittens – wie Freud meinte: die empfindlichste Kränkung der menschlichen Eigenliebe – zeigte kein Geringerer als er selbst, dass der sogenannte homo sapiens „nicht einmal Herr im eigenen Hause“ sei, sondern statt rationaler Selbstbestimmung das Dumpf-Unbewusste unsere Entscheidungen leite.

Demgegenüber vertritt der Philosoph und katholische Theologe Michael Zichy (geb. 1975) dezidiert die These, dass Menschenbilder keinesfalls auf dem Trümmerhaufen der Ideengeschichte entsorgt werden sollten. Im Gegenteil – man/frau haben nicht nur Menschenbilder, sondern jene brauchen sie auch notwendigerweise. Und noch weitergehend: Menschenbilder bilden anthropologische Verhältnisse nicht nur widerspiegelnd ab, sie bilden sogar aktiv die Menschen; sie haben somit nicht nur repräsentative, sondern auch konstitutive Funktion. Das große (Gegen-)Argument, dass es de facto eine unüberschaubare, kaum fassbare Vielfalt von Menschenbildern gäbe, will der Autor nicht gelten lassen: Ohne eine doch existierende substantielle Schnittmenge gemeinsamer anthropologischer Überzeugungen wäre ein lebenspraktisches Convivium der großen gesellschaftlichen Mehrheit nicht möglich.

Wie fasst nun Zichy das Phänomen Menschenbilder? Zunächst geben sie als Bündel von Annahmen oder Überzeugungen über zentrale menschliche Charakteristika Antworten auf fundamentale Fragen unserer Selbstvergewisserung wie z.B.: Welche Stellung hat der Mensch im Verhältnis zu anderen Wesen? Ist er eher kollektiv oder individuell zu verstehen? Ist sein Verhalten eher das Ergebnis freier Entscheidungen oder angeboren/erworben? Was sind Ziele, Werte und Sinn seines Lebens? … In einem weiteren Argumentationsschritt dazu entwickelt der Autor eine Art anthropologischer Mengenlehre: Allereigenste Überzeugungen können erstens nur für sich alleine stehen, sie haben keine Schnittmenge mit anderen. Solche „individuellen“ Menschenbilder sind Vorstellungen von verschrobenen Eigenbrötlern, die kaum sozial anschlussfähig sind. Zweitens: Bei „gruppenspezifischen“ Menschenbildern überlappen sich eigene Überzeugungen deutlich stärker mit denen anderer; dies ist z.B. bei klassischen Weltanschauungen (etwa: religiös, kommunistisch, darwinistisch, esoterisch u.a.) der Fall. Drittens schließlich gibt es Überzeugungsbündel, die von fast allen Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt werden. Jene bilden Fundament und Zentrum der jeweiligen Kultur im Blick auf generelle Ordnung, Moral- und Rechts-System, Erziehung u.a.m. Diese Vorstellungen sind jedoch inhaltlich recht dünn und abstrakt; Zichys Beispiel dafür: der allgemein geteilte Wert der Menschenwürde. Solche inhaltsschwachen Begriffe werden individuell und gruppenspezifisch „angereichert“ – es eröffnet sich ein gesellschaftlicher Aushandlungsspielraum; Beispiele dafür: Abtreibung, Euthanasie, Stammzellen etc. Ausdrücklich weist der Autor darauf hin, dass toxische Klischees/Stereotypen, z.B. „racial profiling“, vermieden werden müssen und auch können, denn es besteht die Möglichkeit der rationalen Selbstkorrektur. In dieser Perspektive sieht Zichy auch seine/unsere Herausforderung darin, Menschenbilder beschreibend zu identifizieren und kritisch zu diskutieren. Dann können diese ihre positive Potenz entfalten, indem sie durch Reduktion von Komplexität Übersichtlichkeit und durch Bewältigung von Kontingenz Stabilität stiften.

Summa summarum sei in einer kritischen Würdigung festzuhalten: Positiv ist hervorzuheben, dass der Autor für diesen zentralen Themenkomplex geistiger Auseinandersetzung seine Thesen und Argumentationsziele klar formuliert und diese deutlich nachvollziehbar Schritt für Schritt darlegt. Dies ist nicht zuletzt für die schulische Arbeit mit diesem Problemkreis hilfreich, sehen doch die Oberstufenpläne die Arbeit an Menschenbildern vor. Diskussions- und fragwürdig bleibt, dass Zichy das stärkste Argument gegen sein Konzept eines mehrheitlich getragenen Menschenbildes, dass nämlich in pluralistischen Gesellschaften eine schier unüberschaubare Mannigfaltigkeit verschiedenster Menschenbilder existiert, recht vorschnell abtut. Hier gibt es jedoch gewichtige Gegenpositionen. Etwa seit den 1970er- bis 1980er-Jahren sieht der vielfach preisgekrönte Nestor der amerikanischen Religionssoziologie Peter L. Berger (gest. 2017) die Signatur der Moderne im „Zwang zur Häresie“: Modernität geht einher mit einer Bewegung vom Singular zum Plural, vom opaken Schicksal der Tradition zur reflektierten Wahl von Weltanschauungen. Oder in den letzten Jahren die vielbeachtete Gegenwartsanalyse des Kulturwissenschaftlers Andreas Reckwitz (geb. 1970), der zunehmend unsere Gesellschaft durch Singularisierung der Lebensstile geprägt sieht: Die Individuen streben geradezu nach Distinktion durch die Herausbildung des Besonderen und Einzigartigen, das Regime des Neuen führt zu einer Krise des Allgemeinen. Aber nicht nur die akademische Gegenwartsdiagnose, sondern auch der Blick auf die Realpolitik nährt Zweifel an der substantiellen Existenz gesellschaftlich mehrheitlich getragener Menschenbilder: Nimmt man etwa die Anti-Impf-Demonstrationen auf Straßen und Plätzen Europas, zeigen sich extrem heterogene weltanschauliche Menschenbilder, die nur durch eine minimalistische Schnittmenge zu einem disparaten Zweckbündnis zusammengeführt werden: Menschen mit Regenbogen- und Reichsflaggen, schwarzer Block und Rechtspopulisten, esoterische Bildungsbürger und Prekariat ohne Schulabschluss bilden eine absurde, in sich widersprüchliche Empörungsbewegung der sogenannten Querdenker. Oder: Gewärtigt man die brutalen kriegerischen Gewaltakte aus dem russischen Imperium, dann offenbaren diese einen weltanschaulichen Zivilisationsbruch, der den Minimalkonsens eines europäisch-abendländischen Menschenbildes mit der Leitidee: Menschenwürde, wie Zichy das exponiert, schmerzlich vermissen lässt. Der Blick auf angeblich gemeinsam getragene Menschenbilder kann sich als Fata Morgana herausstellen.

Wie wir andere wahrnehmen
Stuttgart: Reclam Verlag. 2021
125 Seiten
6,00 €
ISBN 978-3-15-014150-2

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