Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michel Foucault: Die Geständnisse des Fleisches

Michel Foucault (1926-1984) ist eine auch methodisch schillernde Gestalt. Gerne wird er für einen „postmodernen“ Philosophen gehalten, und tatsächlich ist seine These, dass Geschichte sich nicht linear, sondern in Brüchen (ruptures) entwickelt, von geschichtsphilosophischem, antihegelianischem Gehalt und sein Satz, das Subjekt werde verschwinden wie ein Abdruck am Strand, ist von vielen subjektphilosophisch, also im Sinne eines „Todes des Subjektes“, gelesen worden. Doch eigentlich ist er Historiker, der uns mit seiner machtkritischen Arbeit in den Archiven „genealogisch“ über „Errungenschaften“ der Moderne wie das Gefängnis, die psychiatrische Anstalt oder biopolitische Maßnahmen der Regierungen die Fortschrittsbegeisterung gründlich ausgetrieben und damit einen sympathischeren Blick auf vormoderne Epochen ermöglicht hat.

Der Entstehung und Formierung des abendländischen Subjekts und des Objekts seines Begehrens widmete er sich in den letzten Jahren vor seinem frühen Tod. Bis dahin waren drei Bände „Sexualität und Wahrheit“ erschienen, der vierte Band, in dem er sich mit den Diskursen über das Begehren im frühen Christentum beschäftigte, blieb unveröffentlicht und ist endlich auf Deutsch erschienen. Man muss sich dieses Buch tatsächlich wie eine genaue patrologische Studie zu den Themen Jungfräulichkeit, Beichte und Sexualität vorstellen, wie sie – noch dazu von einem methodisch und philosophisch derart geschulten Autor wie Michel Foucault – nirgendwo vorliegt. Am ehesten ist sie im deutschsprachigen Raum mit den bahnbrechenden Arbeiten von Arnold Angenendt „Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum: Von den Anfängen bis heute“ oder Peter Browns „Die Keuschheit der Engel“ zu vergleichen. Allerdings liefert Foucault ausladende Textinterpretationen vor allem zu den drei das Buch gliedernden Themenkomplexen Zeugung/Taufe/Buße, Jungfräulichkeit und Ehe, ohne Anspruch auf eine vorschnelle Systematisierung oder Aktualisierung zu erheben. Vier Anhänge enthalten editorisch hochinteressante weitere Manuskripte Foucaults zum Themenkomplex, die keinem der drei Textblöcke zugeordnet werden konnten, aber für seine Deutung und Einordnung von Belang sind.

Zu Beginn stehen zwei wichtige Einsichten, die sich vor allem aus der Analyse des Paidagogos des Klemens von Alexandrien ergeben, aber auch für viele andere formative Kirchenvätertexte gelten und in verschiedenen Kapiteln breit ausgeführt und belegt werden: (1) Reglements zum bearbeiteten Themenfeld, die häufig bis heute Geltung haben und in der Geschichte immer wieder befragt und bestritten wurden oder gar, wie im Falle der Unauflöslichkeit der Ehe, bis hin zu Schismata wirksam wurden, sind keineswegs ursprünglich „christlich“ im engeren Sinne, sondern stammen aus paganen Quellen, primär dem platonischen Denken und den in den ersten Jahrhunderten des Christentums besonders wirksamen stoischen Philosophenschulen. Und (2) die Motivation, sich ausführlich mit diesen Themen zu beschäftigen, scheint nicht zuerst in einem originären Bekenntniswillen oder in moralischen Missständen in den Gemeinden zu liegen (hier dürfte in der Mehrheit der bis zum dritten Jahrhundert maßgeblichen judenchristlichen Gemeinden schlicht eine abgeschwächte Halacha gegolten haben). Vielmehr antworten die einschlägigen Autoren auf den Vorwurf der Unmoral gegenüber den gesellschaftlich sichtbarer gewordenen Christinnen und Christen. „Unmoral“ gemessen an den damals in elitären Zirkeln geltenden „Regimes der aphrodisia“ für den dem Pneuma, also der stoischen Vernunft, verpflichteten Mann (73-79). So wie Foucault also in seinen früheren Überlegungen zur u.a. in der Beichte wurzelnden Pastoralmacht der christlichen Hierarchen deren Übernahme durch säkulare „Regimes“ in Zeiten der Aufklärung beklagt, beschreibt er im aktuellen Band die Einwanderung einer paganen, philosophisch-elitären Kultur der männlichen Selbstformung in die christliche Ideenwelt.

Vor allem der existenzbedrohende Aderlass abgefallener Gemeindemitglieder während der Christenverfolgungen führte zudem zu einer Verschärfung und Individualisierung (probatio animae) der damals noch gemeindeöffentlichen Beichte (publicatio sui) (139). Das Modell einer jesuanischen Aufopferung des Lehrers/geistlichen Führers für seinen Adepten, also auch der Übernahme der Verantwortung für dessen Lebenswandel, hat sich nur in den Orden, nicht aber in der Weltkirche erhalten (160f). In beiden Lebensformen findet sich hingegen bis heute eine Vorstellung von absolutem Gehorsam gegenüber den Oberen, die partout weder mit einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis noch mit dem Verhältnis Jesu zu seinen Jüngerinnen und Jüngern überein gebracht werden kann (175f).

Zum wichtigen Thema der Jungfräulichkeit bemerkt Foucault nach ausgiebiger Lektüre von Texten des Cyprian und des Methodius: „Sie ist eine Form der Beziehung zwischen Gott und Mensch, sie kennzeichnet den Moment […], in dem Gott und sein Geschöpf nicht mehr mittels des Gesetzes […] kommunizieren […]. Sie ist eine Selbstübung der Seele, die sie bis zur Unsterblichkeit des Körpers bringt.“ (240) Dann wird aber zunehmend deutlich, dass mit der Zeit die Hochschätzung der Jungfräulichkeit in den paganen Weltanschauungen vergessen oder abgewertet und entsprechend gegen sie polemisiert wird, vor allem aber, dass mit der Abwendung von den jüdischen Wurzeln des Christentums spätestens im vierten Jahrhundert auch die dort hochgeschätzte Ehe im Sinne des paganen Genres molestia nuptiarum etwavon Gregor von Nyssa, Johannes Chrisostomos oder Hieronymusabqualifiziert und geradezu konzertiert schlechtgeredet wird (241-279), ohne dass man sich die Mühe einer „techne“, einer eigenen Lehre des Ehelebens, gemacht hätte (335).

Schließlich heißt es: „In dieser Askese der Keuschheit kann man einen Prozess der ‚Subjektivierung‘ sehen, der von einer um die Handlungen zentrierten Sexualethik weit entfernt ist […], einen Erkenntnisprozess, der die Pflicht, die Wahrheit über sich selbst zu suchen und zu sagen, zu einer […] Voraussetzung dieser Ethik erhebt.“ (330)

Im Folgenden wird sichtbar, wie tief die theologische Gründung der Ehe selbst bei Chrisostomus gedacht wird – sie bewirkt „zweifellos weniger [als die Jungfräulichkeit], vergegenwärtigt aber die Einheit der Substanz bei der Schöpfung und […] ist das Abbild des Bundes der Kirche mit dem Heiland.“ (348) Gleichwohl kann er sie nicht ohne moralische, intellektuelle, finanzielle und substanzielle Unterordnung der Frau denken (349ff). Schließlich lenkt Foucault auf den letzten 100 Seiten alle Aufmerksamkeit auf das Werk des Augustinus. An vielen Stellen, vor allem in seiner ungemein wirksamen „ersten großen Systematisierung des Ehelebens“ De bono coniugali setzt er neue Maßstäbe und harmonisiert nach genauer Bibellektüre, was zuvor als Gegensatz erschien: „Jungfräulichkeit und Mutterschaft können sich so […] jede an ihrem Platz nach dem Prinzip verbunden finden, dass das Ganze, zu dem sie sich zusammenfinden, noch schöner ist als das schönste von beiden.“ (413)

Dies alles geschieht freilich vor dem Hintergrund der rigiden Augustinischen Erbsünden- und Concupiscentia-Lehre, die sich seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit den Pelagianern verdankt (438ff): Im Paradies wurde ohne libido kopuliert, sondern allein mit Willenskraft, also unschuldig, Scham entsteht erst nach dem Sündenfall durch das von Gott angekündigte „Öffnen der Augen“, und damit die nun vollzogene „Libidinisierung des Geschlechtsaktes“ (452ff), die ihn vor allem unsteuerbar (sui iuris) machte. Dass Augustinus sich von den jüdischen Quellen und Auslegungstraditionen von Genesis 1 damit maximal weit entfernt hatte, sei nur am Rande erwähnt. Unter der langsamen und genauen Analyse Foucaults erfährt damit jedenfalls die oft verachtete augustinische Erbsündenlehre die Adelung, Teil der Formung und Regulierung eines entstehenden und final neuzeitlichen Subjektbegriffes zu sein, einer Verrechtlichung des moralischen Subjekts und schließlich einer detaillierten, ja „weitschweifigen“ Kodifizierung der ehelichen Beziehungen. Die Konsequenz klingt heute martialisch: Die Eheleute dürfen sich des Körpers des Anderen willentlich und zur (vernünftigen) Zeugung von Nachwuchs bedienen (uti), aber genießen (frui) dürfen sie ihn nicht. Alles Weitere ist den Debatten um die katholische Sexualmoral und das Eherecht der letzten Jahrzehnte zu entnehmen. Welchen Denkbewegungen wir sie verdanken, hat Michel Foucault in dankenswerter Schärfe herauspräpariert.

Sexualität und Wahrheit Bd. 4
Herausgegeben von Frédéric Gros
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger
Berlin: Suhrkamp Verlag. 2019
558 Seiten
36,00 €
ISBN 978-3-518-58733-1

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