Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Mirjam Schambeck / Sabine Pemsel-Maier (Hg.): Welche Werte braucht die Welt?

Die Herausgeberinnen reagieren auf das gewachsene Bewusstsein, dass sich die Gesellschaft und Kultur, angeregt durch Migrationsbewegungen und Integrationsanforderungen, zunehmend wandelt. Wie sind Werte auch unter Maßgabe des Christlichen neu auszuhandeln, welche dürfen, welche müssen sich transformieren? Es kommt nicht von ungefähr, dass Wertebildung „ein zentrales Thema innerhalb der Religionspädagogik und -didaktik der letzten Jahre“ (7) ist.

Der Sammelband beinhaltet 12 Beiträge in drei Kapiteln zu „Wertefragen in religionspluraler Gesellschaft – religionssoziologische und religionspädagogische Erkundungen“, „Christliche Wertebildung angesichts religiöser Pluralität – religionspädagogische Zuspitzungen“ und „Islamische Wertebildung angesichts religiöser Pluralität – muslimische Stimmen“. Grundsatzbeiträge stehen damit neben Perspektiven der beiden Religionsgemeinschaften, die den öffentlichen und medialen Diskurs der vergangenen Jahre besonders prägen.

Michael N. Ebertz weist in seinem religionssoziologischen Befund („Wahrnehmung, Akzeptanz und Umgang mit religiöser Vielfalt in Deutschland“) neben wachsender Konfessionslosigkeit auf die innere Pluralität der Religionsgemeinschaften hin, die einen Verlust an gesamtgesellschaftlicher Integrationskraft dieser Wertegemeinschaften vorantreibt. Dies geht einher mit einem alle Religionsgemeinschaften durchziehenden wertebezogenen „Regiewechsel von der Institution zum Individuum“ (29) und der Notwendigkeit, alte essentialistische Zuschreibungen („wir Katholiken“) mit einer Betonung relationaler Werte aufzubrechen (Engagement, Fairness, Lernen, etc). Auch Ulrich Riegel („Einstellungen zum Religionspluralismus und Religion als Faktor in den Wertorientierungen heutiger Menschen“) zieht eine „ernüchternde“ empirische Bilanz, dass religiöse Pluralität zwar als Bereicherung erfahren wird, nicht aber mit Wertschätzung im täglichen Miteinander einhergeht, v.a. in Bezug auf den Islam. Religionspädagogisch sieht er angesichts des inneren Dissenses von Gläubigen und ihrer Religionsgemeinschaft fruchtbare Ansätze, Schüler zu eigenständigen theologischen Konstruktionen anzuregen und die Beheimatung in einer religiösen Gemeinschaft eher über performative Ansätze als über den Versuch einer institutionellen Affinität anzuzielen.

Vom Titel geleitet, geht es weiter mit Rudolf Englert: „Religion, Werte, Bildung …, bla, bla, bla. Die Integrationsdebatte als Tauglichkeitstest für ‚Schwatzbegriffe‘“: Er kritisiert allzu große Behauptungen über die Reichweite der Wertebildung im Religionsunterricht und unterscheidet zur „Wertebildung“ drei Komponenten: aretaisch (das als „richtig“ Erkannte im eigenen Handeln zur Geltung bringen), evaluativ (Güterbewertung) und normativ (Begründung ethischer Urteile). Religionsunterricht hat religiöse Urteils- und Partizipationskompetenz, nicht aber die Entwicklung moralischer und philosophischer Urteile zum Schwerpunkt – und ist darin vom Ethikunterricht deutlich abzugrenzen. Zugleich muss die Reichweite schulischen Unterrichts „für die Ausprägung moralischer Handlungsorientierungen bei Heranwachsenden“ (90) insgesamt als sehr gering angesehen werden. Religionsunterricht kann am ehesten die Entwicklung ethischer Urteilsbildung begleiten sowie wichtige (biblische) Geschichten und Persönlichkeiten – auch die Lehrer – und Erfahrungen in Projekten wie z.B. Compassion anbieten.

Mirjam Schambeck fragt danach, „was religiöse Wertebildung zur Integration beitragen kann“, und nimmt besonders Jugendliche mit Migrations- und Fluchthintergrund und deren Identitätskonstruktion, die sich für die Autorin auf die beiden Faktoren Anerkennung und Zugehörigkeit beschränkt, in den Blick. Spannend werden Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt „tell me your story“, das jugendliche Geflüchtete zu der Rolle von Religion in ihrer Identitätskonstruktion befragt, die ihrerseits Religion als Ort des „Wir-Gefühls“ in einer fremden Aufnahmegesellschaft postulieren, sich aber auch davon abgrenzen. Religionen stellen für sie „Zugehörigkeit, Anerkennung und Ich-Stärke“ (136) bereit.

Behauptete Werthaltungen bestehen ihren Tauglichkeitstest in der tatsächlichen Praxis bzw. mit Englert in der aretaischen Komponente der Wertebildung. Obgleich die Geschlechterfrage schon in der Einleitung gestellt wird und Sabine Pemsel-Maier ihren äußerst instruktiven Beitrag „Der lange Weg von der Unterordnung der Frau zur Gleichberechtigung der Geschlechter“ ausdrücklich darauf bezieht, fällt auf, dass neben den beiden Herausgeberinnen keine Frau im Buch vertreten ist. Haben Frauen denn nichts zu sagen in der Wertedebatte – und werden sie gelesen? 62 von 305 Literaturverweisen im gesamten Buch entstammen weiblicher Feder, davon 25 in Pemsel-Maiers, 12 in Riegels Beitrag – alle anderen Beiträge verweisen auf null bis vier Werke von forschenden Frauen.

Für die islamischen Stimmen analysiert Zekirija Sejdini Lehrpläne und Schulbücher des islamischen Religionsunterrichts in Österreich auf ihren Wertebildungsgehalt bzgl. „Menschenwürde“, „Vielfalt als Gnade“, „Meinungsfreiheit als Fundament des Respekts“ und „Viele Wege, ein Gott“. Abdel-Hakim Ourghi sucht nach Vereinbarkeit der Moderne mit dem Islam entlang einer Analyse des Begriffs von „Freiheit“ im Koran unter den Aspekten der Meinungsfreiheit und der Glaubensfreiheit, die für den Autor v.a. in einem bewussten „Akt der Befreiung aus der selbst- und fremdauferlegten Unfreiheit durch den konservativen Islam“ (214) besteht. Ob die Verabschiedung aus den traditions-verharrenden konservativen Milieus wirklich eine langfristige Lösung bietet? Der Blick in die christlichen Liberationsbewegungen des 20. Jahrhunderts, die heute zwischen säkularisierter Ausdünnung und religiös-konservativem Backlash zerrieben werden, lässt dies doch zumindest bezweifeln. „Hat der Islam ein Gewaltproblem?“ fragt Muhammad Sameer Murtaza und bedient damit eine Debatte, die in einem religionspädagogischen Band zur Wertebildung eher unerwartet daherkommt.

Heterogen ist der Band in Perspektiven und Analysen, doch die einzelnen Beiträge sind durchweg interessant zu lesen und dienen einer guten Orientierung im gesamten Feld. Angesichts der Ausgangsfrage – den gesellschaftlichen Wertediskursen rund um das Thema Migration – fehlt mir der eminent wichtige Blick auf die Rolle der Medien. Eine weiterführende pädagogische Perspektive würde zudem eine intensivere Beachtung der Ausprägung individueller Wertekonzepte und der moralpsychologischen Strukturen von Werthaltungen und Wertbindungen beinhalten; beides wird wenig vertieft – überraschend, denn angesichts der eingangs formulierten Verabschiedung der Religionspädagogik von Modellen der „Wertevermittlung“ oder „Werteübertragung“ (10) wäre genau dieser Prozess der individuellen Aneignung unbedingt intensiver in den Blick zu nehmen.

Wertebildung in christlicher und muslimischer Perspektive
Freiburg: Herder Verlag. 2017
262 Seiten
25,00 €
ISBN 978-3-451-38229-1

Zurück