Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Moshe Navon / Thomas Söding: Gemeinsam zu Gott beten

 

Dieses Buch präsentiert eine interreligiöse Zusammenarbeit zwischen einem Rabbiner und einem Neutestamentler, nämlich von Moshe Navon, Landesrabbiner der liberalen Juden in Hamburg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, und Thomas Söding, Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Nordrhein-Westfalen. Es ist der Versuch einer Auslegung der jüdischen wie christlichen Lesart des Vaterunsers. Beide Autoren sind darum bemüht, auch für Juden einen Zugang zum Vaterunser zu schaffen, und stellen die Frage, ob Juden gemeinsam mit Christen dieses Gebet sprechen können.

Diese Fragestellung ist berechtigt, denn das Vaterunser wurde von dem Juden Jesu gesprochen, der es an seine jüdischen Mitstreiter weitergab. Manche gehen davon aus, dass Jesus das Gebet auf Aramäisch sprach, denn Hebräisch war nur noch die Sprache des Gottesdienstes in der Synagoge. Da es aber weiterhin die Sprache der Gebete war, bleibt die Frage offen. Das Vaterunser wurde später ins Griechische verschriftlicht und steht nun in zwei Fassungen, einer längeren bei Matthäus (6,9-13) und einer kürzeren bei Lukas (11,2-4), im Neuen Testament. Zwar ist hinlänglich bekannt, dass die Motive des Gebetes Parallelen zu dem jüdischen Hauptgebet der Amida (Achtzehnbittengebet) und dem Kaddisch zeigen. In diesem Buch werden diese Texte sinnvollerweise nebeneinandergestellt, so dass Christen, die selten ein jüdisches Gebetbuch (Siddur) besitzen, die Parallelen sichtbar werden. Weniger deutlich für Leser sind die im Buch vorangestellten Textfassungen des Vaterunsers in Griechisch, Aramäisch, Hebräisch und auch Latein; hier wären die unterschiedlichen Übersetzungsvarianten – besonders hinsichtlich der Brotbitte – hilfreich gewesen.

Sehr übersichtlich ist der Aufbau des Buches, da jeder Vers eine christliche und eine jüdische Auslegung erfährt, um den jüdischen Kontext der Evangelien zu erschließen. In Anlehnung an Schalom ben Chorin, der die These vertritt, dass das Vaterunser „nichts enthält, was mit dem jüdischen Glauben unvereinbar wäre“ (Betendes Judentum – Die Liturgie der Synagoge, 1980, 214), titelt Navon im Einführungskapitel „Das Vaterunser als jüdische Geburtsurkunde des Christentums: in der Spur der Märtyrer.“

Beide Autoren erörtern im vierten Kapitel die „Vater-Anrede". Bereits Ben Chorin wies darauf hin, dass „Vater im Himmel" nicht nur eine christliche, sondern eine „genuin-jüdische" Vorstellung ist (Bruder Jesus – Der Nazarener in jüdischer Sicht, 1977, 92). Allerdings, so legt Navon dar, kommt dieser Begriff erst bei den Pharisäern und in der Mischna, der sogenannten mündlichen Thora, vor. Im Christentum sei – nach Söding – die Anrede Gottes als Vater erst durch das Gebet Jesu geprägt. Kapitel 5 behandelt die Heiligung des Namens Gottes. Söding legt u.a. dar, dass ausgehend von der Frage Moses „Wie heißt du?" (Ex 3,13) und der Ausrufung Gottes auf dem Sinai „Ich bin, der ich bin" (Ex 3,14) der Name Gottes JHWH unaussprechlich ist. Die vier Buchstaben, das Tetragrammaton, wird als „Adonay" (Herr) gelesen, da die vier Buchstaben analog vokalisiert werden; das Griechische übersetzt Kyrios (Herr) und das lateinische Dominus. Navon erklärt, dass nach jüdischem Brauch das Aussprechen des JHWH-Namens vermieden wird, stattdessen werden verschiedene Ersatznamen gebraucht. Wichtig ist die Heiligung des Gottesnamens, wie dies in der Kedduscha und dem Kaddisch zu Tage tritt. In beiden Gebeten findet man parallele Ausdrücke zum Vaterunser. Weiter legt er dar, dass sie, wenn auch erst später als das Vaterunser verfasst, doch existierten. Denn diese Motive waren bereits zur Zeit Jesu bekannt, was durch die Rollen vom Toten Meer offensichtlich ist.

Von besonderem Interesse ist das 8. Kapitel „Die Gabe des Brotes". Das ungesäuerte Brot, die Mazza für Pessach als auch die zwölf Schaubrote, welche die zwölf Stämme Israels im Tempel repräsentieren, zeigen den Bund zwischen Gott und dem Volk Israel. Navon macht deutlich, dass „die materielle, die soziale und spirituelle Bedeutung des Brotes ineinandergreifen." Die Brotbitte lässt offen, für welches Brot gebetet wird. An dieser Stelle wäre eine Auseinandersetzung mit dem Stand der Forschung nötig gewesen, ganz besonders mit den Artikeln von Eckhard Nordhofen, („Was für ein Brot? Was für ein Brot!, 2017 und „Brot: Ein hapax für jeden Tag“, 2018), der aber nur in der Fußnote erwähnt wird. Er weist auf das Problem der Übersetzung von epioúsios hin, denn dieses Wort kommt ausschließlich an dieser Stelle vor. Da es in anderen Überlieferungen nicht existiert, geht er davon aus, dass es etwas Einzigartiges ausdrücken will. Weil die Vulgata epioúsios als supersubstantialis (überwesentlich) übersetzt, sieht er darin eine himmlische Speise und zieht eine Parallele zum himmlischen Manna. Epioúsios wird im Griechischen unterschiedlich erklärt: zum Dasein nötig, für den heutigen Tag, für den folgenden Tag. In der lateinischen Form bei Lukas, welche im heutigen liturgischen Gebrauch ist, entspricht dies dem Panem nostrum cotidianum da nobis hodie, unser tägliches Brot gib uns heute. In der aramäischen Version der Bibel, eine der ersten Übersetzungen aus dem Griechischen, steht: Gib uns das Brot unseres Bedürfnisses (sunqānan), welches der griechischen Version zum Dasein nötig nahekommt. Eine Variante dazu bietet das Hebräische: das für uns bestimmte Brot (Lechem chuqqenu).

Die Versuchungsbitte im 10. Kapitel „Bewahrung vor Versuchung, Erlösung vom Bösen" birgt ebenfalls viele Probleme, denn das „Führe uns nicht in Versuchung" kann dahin interpretiert werden, dass Gott den Menschen auf die Probe stellt. Söding legt dar, dass Gott den Menschen nicht einer Probe aussetzt. Ebenfalls problematisch ist die Bitte „Erlöse uns von dem Bösen". Die Argumentation, dass in der aramäischen Fassung die Bitte „weicher" klingt, ist nicht nachvollziehbar, denn bīshā (das Böse) hat eine große Spannbreite bis hin zu bösen Mächten und sogar dem Teufel.

Das 11. Kapitel „Die Ehre Gottes“ behandelt die Hinzufügung der kleinen Doxologie „denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen“, welche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der katholischen Kirche angefügt wird, und die Hintergründe, warum diese in der Gebetspraxis der evangelischen Kirche schon immer zu finden war. Auch „vertieft" sie die Nähe zum Judentum, denn die Parallele zwischen dem Kaddisch und dem Vaterunser wird dadurch noch deutlicher. Navon betont sogar, dass der Ursprung der Doxologie nicht in den Evangelien, sondern in Davids Segensgebet (1. Chr 29, 10-13) seinen Ursprung habe. Das letzte Kapitel „Gemeinsam beten: Das Vaterunser als Quelle des Friedens“ demonstriert nochmals, wie wichtig es ist, Jesus als Juden zu sehen.

Wenn auch manche Paralleltexte oft weit hergeholt und einige Interpretationen nicht ganz nachvollziehbar sind, trägt das Buch doch zur Vertiefung des Dialoges zwischen Juden und Christen bei.

Eine jüdisch-christliche Auslegung des Vaterunsers
Freiburg: Herder Verlag. 2018
174 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-451-34056-7

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