Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Mouhanad Khorchide: Gottes Offenbarung in Menschenwort

Auf der Frankfurter Buchmesse 2018 wurde der erste Band der auf 17 Bände angelegten Kommentarreihe durch den Autor Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Westf. Wilhelms-Universität Münster, vorgestellt. Die Anwesenheit von Manuel Herder und dessen programmatische Vorrede bei der Buchvorstellung signalisierten die Wichtigkeit dieses Projektes für den Verlag: Es wäre „ein großer Durchbruch, wenn die erstmalige Verbindung von klassischer islamischer Koranauslegung und historisch-kritischer Methode gelingt.“ Die Latte der Erwartungen liegt also hoch. Überspringen soll sie ein Team um den Münsteraner islamischen Theologen Mouhanad Khorchide. Zum ersten Band tragen daher auch Dirk Hartwig, Dina El Omari und Stefan Zorn bei.

Geplant ist das Erscheinen von 1-2 Bänden pro Jahr, so dass bis etwa zum Jahr 2025 mit der Komplettierung der Reihe gerechnet werden könnte. Anders als die meisten Korankommentare der klassischen mittelalterlichen Epoche – z.B. der Kommentar von Ṭabari (9./10. Jahrhundert), der in der maßgeblichen Ausgabe von Ahmad Shaker 32 Bände umfasst – ist die Reihe nicht als fortlaufender Stellenkommentar geplant. Vielmehr nimmt sich jeder Band eines anderen Themas an (Scharia, Propheten, Jenseitsvorstellungen, Frauenbilder im Koran etc.); die beiden abschließenden Bände sollen eine kürzere Studienversion des opus magnum bieten (http://media.herder.de/files/Korankommentar_V1_ISBN_kl.pdf).

Was den ersten Band betrifft, so widmet sich dieser ausschließlich der methodologischen Reflexion als Grundlagenarbeit für die in den folgenden Bänden zu erwartende inhaltliche Auslegung der Texte. Dies mindert etwas den Spaß an der Lektüre. Wer bereits jetzt Khorchides Koranauslegung an einem Sujet nachverfolgen möchte, dem sei auf seine 2017 gemeinsam mit Klaus von Stosch vorgelegte surenholistische Auslegung der Jesus-Verse des Korans verwiesen (Der andere Jesus, Freiburg 2017, 95-174) – in der sicheren Hoffnung, dass dieses Buch nicht weit vom Stamm dessen gefallen ist, was die Kommentarreihe spätestens in ihrem Band XV (Jesus und Maria im Koran) aufzubieten haben wird. Der erste Band aber beginnt mit einem längeren Überblick über die Koranforschung der westlichen Islamwissenschaft von ihren Anfängen bis zu Angelika Neuwirth (16-77). In der zweiten Hälfte des Buches findet sich auf weiteren 60 Seiten eine Darstellung der historisch-kritischen Bibelexegese in ihren einzelnen Methodenschritten sowie den Meilensteinen der Auseinandersetzung mit dieser Methode innerhalb der christlichen Theologien (231-290).

Natürlich nimmt der Verfasser in diesem Band immer wieder auf klassische und moderne islamische Ausleger Bezug, um seine Positionen abzusichern. Es fällt aber auf, dass in diesem Band eine systematische Darstellung der islamischen Koranauslegungen und ihrer Geschichte fehlt, während der westlichen Islamwissenschaft und Bibelauslegung dieser Platz einräumt wird (!). Einzig die Rechtfertigung seines eigenen ästhetischen und literaturwissenschaftlichen Zugangs zum Koran wird von Khorchide systematisch aus den klassischen und modernen islamischen Schulen hergeleitet (Kap. 4, 152-212).

Dazu fordert Khorchide im 3. Kapitel („Ein theologisch-hermeneutischer Zugang zum Koran“, 78-151) einen Paradigmenwechsel „für ein anthropologisches Verständnis der Offenbarung Gottes im Islam“ ein, den er in seine Vision der Barmherzigkeit als fundamentale Wesenseigenschaft Gottes einbindet (Islam ist Barmherzigkeit, Freiburg 2012, 2. Aufl. 2015). Im Koran, so Khorchides Überlegung, manifestiert sich diese Wesenseigenschaft Gottes, und sie ist gleichzeitig der hermeneutische Schlüssel zur Auslegung des Korans. Da er aber Barmherzigkeit als Gottes liebende Zuwendung zu seinen Menschen versteht, die Er in eine vollumfängliche Freiheit entlässt, muss dies in gewissen Grenzen auch für die menschliche Freiheit bei der Auslegung des Korans gelten. In der theologischen Spekulation von Khorchide korreliert also das fundamentale Wesensattribut Gottes – seine Barmherzigkeit – mit der Freiheit der menschlichen Auslegungen seiner Offenbarung. Dementsprechend fragen die abschließenden Kapitel 6.8 und 7 nach den Bedingungen, zu denen historisch-kritische Auslegungen des Korans vor der islamischen Theologie verantwortet werden können (291-325).

Abschließend möchte ich zwei Fragen stellen, um folgendes Versprechen aus dem Werbe-Flyer des Herder-Verlags realistisch einzuordnen: „Ein völlig neuer Ansatz, den Koran zu interpretieren. … Eine Lücke wird geschlossen. Erstmals verbindet ‚Herders theologischer Koran-Kommentar‘ (HthKK) die Ergebnisse der historisch(-kritischen) und literarischen Analyse der Arabistik und Islamwissenschaft mit der islamischen Kommentartradition. Der Kommentar erschließt die Bedeutung des Korans als literarischer Text mit historischem Kontext und als Rede Gottes.“ Meine Fragen lauten: Ist erstens die Methode, die Khorchide an den Koran anlegt, innerhalb der islamischen Koran-Auslegung wirklich ein „völlig neuer Ansatz, den Koran zu interpretieren“? Und was versteht der Verfasser zweitens unter „historisch-kritischer“ Auslegung?

Für die erste Frage ist es wichtig zu verstehen, dass Khorchide nicht die Koranauslegung neu erfinden will, sondern sich innerhalb eines Stroms moderner islamischer Interpreten bewegt, die sich selber als hermeneutische Ausleger verstehen, von denen er den ägyptischen Literaturwissenschaftler Abu Zaid (gest. 2010) häufig anführt. Im englischsprachigen Bereich redet man von „contextualists“, auch wenn nicht jeder Autor diesen Begriff gerne als Eigenbeschreibung übernimmt. In diesem Sinne ist ein deutschsprachiges Kommentarwerk zum Koran, das im Rahmen der islamischen hermeneutischen Schule Methodenschritte anwendet, die in der historisch-kritischen Bibelwissenschaft Verwendung finden, sicherlich ein wichtiges Projekt. Es wird dabei zu beobachten bleiben, ob und inwieweit Khorchide in den folgenden Auslegungen einzelner Texte wirklich über den aktuellen Forschungsstand der meist in englischer, französischer, arabischer oder türkischer Sprache publizierenden „contextualists“ hinausgeht.

Der „methodische Atheismus“, den Khorchide als proprium der historisch-kritischen Methode zu Recht fordert, wird von ihm nämlich gleich wieder dadurch eingeschränkt, dass er die Textentstehungszeit des Koran a priori auf die Lebenszeit des Propheten festlegt. Als Argument gilt die zeitnah einsetzende handschriftliche Überlieferung des Textes (304). Was heißt zeitnah? Die ältesten erhaltenen Manuskripte setzen kaum eher als 50 Jahre nach dem Tode des Propheten ein. Wie steht es um den „methodischen Atheismus“, wenn a priori ausgeschlossen wird, dass es im ersten halben Jahrhundert nach dem Tode des Propheten zu Textfortschreibungen gekommen sein könnte? Was wird es für die Auslegung einzelner Korantexte bedeuten, dass Khorchide der historisch-kritischen Methode vorab diesen schmerzhaftesten, diachron schneidenden Zahn zieht?

Von einiger Bedeutung für Khorchide ist derweil die surenholistische Auslegung, wie sie im Bereich der Bibelexegese als Teil einer synchronen Analyse durchaus zur historisch-kritischen Methode gehört und von Angelika Neuwirth bereits in den 1990er Jahren in die Koranauslegung eingeführt wurde. Die Auslegung der koranischen Jesus-Texte, die 2017 von Khorchide und Klaus von Stosch gemeinsam vorgenommen wurde (s.o.), schmiegte sich bereits eng an diese Methode an, die vorwiegend auf der Textoberfläche von Suren(teilen) arbeitet. Historisch-kritisch ist vor allem eine Exegese zu nennen, in der sich synchrone und diachrone Methoden gegeneinander reiben und produktiv infrage stellen. Hier wäre es im Rahmen eines Methodenbands notwendig gewesen, dieses Verhältnis für das eigene Vorhaben zu erörtern. Leider geschieht dies nicht.

Unbenommen davon bleibt, dass ein wichtiges Werk entsteht, das neben klassischen islamischen Exegeten den aktuellen Forschungsstand internationaler muslimischer (und nicht-muslimischer) Koranausleger der modernen hermeneutischen Schulen in einem groß angelegten Themen-Kommentar und in deutscher Sprache anbieten wird. Möge es gelingen, denn eine solche Darstellung jahrhundertealter Gelehrsamkeit in ihrer Aktualisierung verdient nicht nur als historische Kulturleistung wahrgenommen zu werden, sondern muss im Sinne ihres Beitrags zur europäischen, deutschsprachigen Kultur betrachtet werden. Sie kann das Selbstverständnis des bildungsaffinen Teils der muslimischen Community in Deutschland prägen, aber auch Nicht-Muslime können das spezifische Potenzial koranischer Theologie und ihrer Auslegungen erkennen. Und das tut not in einer Zeit, in der nicht nur aus dem Spektrum der „neuen Rechten“ heraus dieser ressourcenorientierte Blick massiv verweigert und häufig leider auch angefeindet wird.

Der Koran im Licht der Barmherzigkeit
Herders Theologischer Koran-Kommentar Bd. 1
Freiburg: Herder Verlag. 2018
350 Seiten
30,00 €
ISBN 978-3-451-37902-4

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