Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Nancy L. Eiesland: Der behinderte Gott

Der von Werner Schüßler übersetzte facettenreiche Titel „Der behinderte Gott“ fasst die zentrale Aussage der mittlerweile leider verstorbenen körperbehinderten Theologin und Bürgerrechtlerin für behinderte Menschen Nancy Eiesland zusammen: Das Symbol des „behinderten Gottes“ soll Menschen mit Behinderung ermöglichen, sich mit diesem Gott zu identifizieren und sich mit der Kirche zu versöhnen.

Jesus Christus fordert die Apostel auf, in den Wundmalen seiner Beeinträchtigung ihre eigene Verbundenheit mit Gott zu erkennen. Seine Wundmale offenbaren Jesus Christus als behinderten Gott. Der gebrochene Körper wird zum Sakrament und Ausgangspunkt ihrer Befreiungstheologie. „Ich erkannte den inkarnierten Christus im Bild jener, die als ‚nicht tragfähig’, als ‚arbeitsunfähig’, als ‚mit fragwürdiger Lebensqualität’ behaftet beurteilt werden. Hier war Gott für mich.“ (111) Das Symbol von Jesus Christus, dem behinderten Gott, ist beides: Geschenk und Geheimnis. Durch seinen gebrochenen Leib ermöglicht er einen beidseitigen Zugang, den von Personen mit und ohne Behinderung zu ihm und untereinander. Die Autorin fordert folgerichtig: „Die vollständige Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gemeinschaft mit Gott verlangen nach neuen Symbolen, Praktiken und Glaubensformen. Menschen mit Behinderung und körperlich Gesunde müssen gemeinsam mit dem behinderten Gott durch Jesu gebrochenen Leib hindurch wieder versöhnt werden in einer eucharistischen Umkehr und Feier.“ (29)

Der Prozess des Einlebens in den Leib Christi macht für die Autorin soziale Inklusion und politisches Engagement zum Schwerpunkt. Darin ist eingeschlossen eine neue wissenschaftliche Wahrnehmung von „Behinderung“. Körperbehinderte Menschen leben in unkonventionellen Körpern ein gewöhnliches Leben. Ihnen wird der Zugang zu alltäglichen Dingen wie Mobilität, Teilhabe und Recht erschwert. Sie müssen mit Blick auf die amerikanische Geschichte der Behindertenrechtsbewegung und die Fallstudie zur „American Lutheran Church“ ermutigt werden, „ihre eigenen spezifischen und außergewöhnlichen Bedürfnisse wahrzunehmen, anstatt sie als eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit von Inklusion und Exklusion zu verstehen“(33). Stark machende Rahmenbedingungen sind zu fordern in Staat und Kirchen. Sie sollen Gerechtigkeit einfordern und behindernde Theologie abwehren.

Hier liegt der weitere Ansatzpunkt der Befreiungstheologie der Autorin: „Es ist meine Überzeugung, dass eine Befreiungstheologie der Behinderung eine Theologie der Koalition und des Kampfes ist, in der wir unsere unverwechselbaren Erfahrungen einbringen können, während wir außerdem für Anerkennung, Inklusion und Akzeptanz untereinander wie auch von Seiten der körperlich gesunden Gesellschaft und Kirche kämpfen.“ (35) In solchen Prozessen müssen sich Personen mit Behinderung als historische Akteure und theologische Subjekte verstehen und anerkannt werden. Das Problem der Behinderung hat seinen Ort weder in der Psyche noch im Körper einer Person, sondern im sozialen System, das von der Kirche mitgestützt wurde.

Das von Eiesland entworfene soziologische Minderheiten-Paradigma birgt Ressourcen für neue theologische Konzepte von Behinderung. Sie wendet sich gegen eine „gefährliche“ individualistische Theologie: „Die drei Motive – die Verbindung von Sünde und Behinderung, das tugendhafte Leiden sowie die ausgrenzende Wohltätigkeit – veranschaulichen die Hürden, auf die Menschen mit Behinderung stoßen, wenn sie Inklusion und Gerechtigkeit innerhalb der christlichen Gemeinschaft suchen.“ (92) Menschen mit Behinderung werden zum „Thema“ gemacht. Ihre Erfahrungen werden in Begriffen erklärt, die „körperlich gesunde Personen verstehen können“, anstatt durch einen befreienden Dialog mit den behinderten Partnern die Lebenswirklichkeit der behinderten Menschen in theologische Symbole zu transformieren, die Inklusion ermöglichen.

Von den Zugängen zum Amt macht Eiesland das Gelingen einer Transformation abhängig. Sie erwartet dialogische anstelle von hierarchischen Strukturen. Eine „Gemeinschaft der Gerechtigkeit zu sein“ ist das Merkmal christlicher Kirchen. Es ist ihr Auftrag, in konkreten Situationen zu unterstützen und Gerechtigkeit zu erkämpfen – nicht nur für einen Einzelnen oder eine Gruppe. Andernfalls kommt es zu einer Spiritualisierung von Behinderung, die in Kategorien der körperlich gesunden Wirklichkeit einsperrt. Eine Kirche muss sich bewusst sein, dass ihre Symbole normative Maßstäbe für die Interaktion setzen. Eine Resymbolisierung ist gefordert, die ihre Wurzel in den Auferstehungserzählungen hat und sich überall da mit politischem Handeln verbindet, wo die Würde von körperbehinderten Menschen bedroht, diskriminiert oder stigmatisiert wird. Der behinderte Gott hat seine Bedeutung in der Körperlichkeit und ihren Beeinträchtigungen. Er verändert das Tabu körperlicher Abwendung gegenüber der Behinderung und ruft die Nachfolger dazu auf, ihre Verbindung und Gleichheit untereinander mit Blick auf Christi körperliche Beeinträchtigung anzuerkennen. „Unsere Körper haben Teil an der Ebenbildlichkeit Gottes nicht trotz, sondern aufgrund der Beeinträchtigung.“ (127) Sie werden zum „Sakrament“.

Das Symbol des behinderten Gottes ist ein Name von vielen für Gott (133). Es zeigt keinen unterdrückenden Charakter. Es ist das Ende der Entfremdung mit dem eigenen beeinträchtigten Körper und versteht Transzendenz nicht als Befreiung von Behinderungen, sondern anerkennt die Grenzen des menschlichen Körpers und macht deutlich, dass unkonventionelle Körper zu leben wert sind. Es verhindert die einseitige Ausrichtung auf „Gesunde“. Als politisches Symbol ist der behinderte Gott eine Wiederbelebung des göttlichen Körpers mit unterdrücktem Wissen gegen das soziale System und die behindernden Theologien der Kirchen. Er stellt sich gegen Vorstellungen eines allmächtigen Gottes, der heilen kann, wann Er es will. „Es ist der behinderte Gott, der auf dem eucharistischen Altar gegenwärtig ist – der Gott, der körperlich gemartert wurde, der vom Tod auferstand und im Himmel und auf Erden gegenwärtig ist, behindert und ganz.“ (135) Er führt zur Bejahung unkonventioneller Körper von behinderten Menschen und macht sie zum „Sakrament“ (146).

Für viele ist die Eucharistie, so die Autorin, ein „Sakrament der Trennung“, insbesondere beim Kommunionempfang. Denn nicht nur (körper-)behinderte Menschen erleben die Eucharistie „als ein gefürchtetes und beschämendes Gedächtnis, indem wir in der Kirche als Eindringlinge in ein Gebiet der körperlich Gesunden gelten“ (143). Die Eucharistie, als Zeichen der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft, als Praxis der Gnade, wird zu einer Einzelerfahrung am Sitzplatz umgestaltet. „Dabei wird am Altar an die körperliche Realität dieses Lebens erinnert, gebrochen für ein gebrochenes Volk.“ (144) Daher ist die Inklusion von Menschen mit Behinderung in die alltägliche Praxis des Kommunionempfangs oder Vollzugs der Eucharistie eine Angelegenheit körperlicher Vermittlung von Gerechtigkeit und eine Verkörperung von Hoffnung.“ (141) Eiesland entwickelt ein eucharistisches Ritual und Hochgebet in Verbindung mit der Handauflegung. Es wird zum Leitbild für religiöse Glaubensformen und Rituale ihrer Befreiungstheologie. Sie beschreibt das Leitbild als persönliche Erfahrung in einem charismatischen Handauflegungsgottesdienst: „Ihre Berührungen und ihre Tränen waren Körperpraktiken der Inklusion. Mein Körper gehörte in die Kirche. Ab diesem frühen Alter entsinne ich mich an die körperliche Empfindung, dass mein Körper in Gott wiederhergestellt wurde, als jene spirituellen Frauen mir die Hände auflegten, meinen Schmerz liebkosten, meine Vereinsamung aufhoben und meinen spirituellen Körper enthüllten. Für Menschen mit Behinderung sind solche Erlebnisse körperlicher Wiedergutmachung und alltäglicher Inklusion selten.“ (148)

Nancy Eiesland wurde über das Forum für Heil- und Religionspädagogik in der BRD bekannt und wirkte seitdem inspirierend für alle, die eine authentische Wahrnehmung von Behinderung in Kirche und Gesellschaft suchen.

Anstöße zu einer Befreiungstheologie der Behinderung
Übersetzt und eingeleitet von Werner Schüßler
Würzburg: Echter Verlag. 2018
176 Seiten
14,90 €
ISBN 978-3-429-04427-5

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