Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Nils Köbel: Identität – Werte – Weltdeutung

Nils Köbel, Professor für Pädagogik an der KH Mainz und durch dem Podcast „Soziopod“ bundesweit bekannt, fragt in seiner Habilitationsschrift „Wie entstehen Wertüberzeugungen und ethische Lebensorientierungen in der Biographie einer Person? Welche Sozialisations- und Bildungsprozesse führen zu identitätsprägenden Weltdeutungen?“ (7) und erhellt damit einen für jede ethische (und religiöse) Bildung bedeutsamen Zusammenhang. Ausgehend von der Beobachtung, dass Werte in ihrer Entstehung nicht auf rationale oder kontrollierbare Entstehungsgeschichten beruhen, sondern vielmehr emotional-affektiv aufgeladen und individuell-biografisch gebunden sind, wählt er einen hermeneutischen und einen empirischen Forschungsweg.

Im ersten Teil (12-117) legt der Verfasser die theoretischen Grundlagen, indem Begriffsklärungen zu den Rahmenthemen Identität, Werte und Weltdeutungen erfolgen, zudem eine Erschließung verschiedener pädagogischer, psychologischer und soziologischer Theorien zur Entwicklung von Wertüberzeugungen und ethischen Lebensorientierungen. Weltdeutungen konkretisiert er enger auf die Bereiche Religion, Moral und Philosophie. Mit Charles Taylors Ansatz der Weltanschauungen zeigt er, dass in der pluralen Moderne „jede ethische Grundhaltung zu einer individuellen Lebensoption“ (54) werden kann. Daran schließt sich die erziehungswissenschaftliche Fragestellung an, „welche Sozialisations- und Entwicklungsprozesse dazu führen, dass eine Person sich an Werte bindet und im Zuge ihres ethischen Lebensentwurfs bestimmte Grundeinstellungen als Kernelemente ihrer Subjektivität errichtet.“ (54) Köbel unternimmt eine ausführliche Betrachtung der „Entstehung religiöser Grundhaltungen“ nach Peter L. Berger (54-82), der „Entstehung moralischer und ethischer Grundhaltungen“ mit Hauptreferenz auf Hans Joas (82-104) und der „Entstehung philosophischer Grundhaltungen“ (104-116) mit Bezug auf Dieter Henrich.

In allen drei Bereichen ist die Entwicklung von Wertebindungen insbesondere mit dem Einbrechen von neuen Erfahrungen oder Erlebnissen, die transzendierenden Charakter haben können, verbunden. Bei Berger sind solche Erfahrungen als „Sinnprovinzen“, bei Joas als „Selbsttranszendenz“, bei Henrich als „Evidenzerfahrungen“ markiert. Der Verfasser erkennt in diesen drei phänomenologisch orientierten Ansätzen eine enorme Erklärungskraft für seine empirisch gewendete Forschungsfrage: „Mit welchen biografischen Erzählungen artikulieren und plausibilisieren Personen die Entstehung ihrer Wertbindungen und ethischen Grundhaltungen?“ (126)

Im empirischen zweiten Teil (120-251) begründet der Autor die Methode des narrativen Interviews und stellt die Ergebnisse aus 15 Gesprächen mit Männern und Frauen in kirchlicher Erwachsenenbildung und Jugendleitung, in Umweltschutz und Parteipolitik sowie Personen aus der Punkrock-Szene vor – zunächst in vier Einzelfallstudien und dann generalisierend. Die lebendig geschriebenen Fallstudien zeigen insbesondere die Vielfalt und Individualität, in der Wertebildungs-Prozesse verlaufen. Die Auswertung entlang einzelner Segmente erschwert manchmal, den konkreten Weg der feinstrukturellen Analyse schlüssig nachzuvollziehen; alleine durch das Benennen einer „hermeneutischen Spirale“ (135) wird noch nicht deutlich, welche Aspekte der theoretischen Entwicklung auf ein bestimmtes Interview angewendet werden, beispielsweise ob nun „Sinnprovinzen“, „Evidenzerfahrungen“ oder „Selbsttranszendierung“ anzunehmen sind oder eben nicht. Die Empirie dient der Verifizierung, aber auch einer Grundierung. Zwei generalisierende Typologien bilden sich auch mit Material aus den anderen Gesprächen heraus: zum einen die Bedeutung von Sozialisationsinstanzen ethischer Lebensorientierungen (vertikal in Familien, horizontal mit Peers, diagonal mit Vorbildern sowie Beruf(ungs)geschichten, denn die Berufswahl entpuppt sich als eine wesentliche Instanz der Wertebindung), zum anderen die Wertbindungsnarrationen, an denen ersichtlich wird, „dass in den Entstehungsgeschichten von Wertorientierungen weniger argumentativ-rationale Entscheidungen im Vordergrund stehen, sondern vor allem bedeutsame Prozesse, Begegnungen und Erlebnisse, die sich auf die gesamte Person auswirken“ (236). Die aus den Interviews ableitbare Unterscheidung in Kontinuitäts- und Ereignisnarrationen entwickelt den theoretischen Einblick maßgeblich weiter. Denn mit der Bedeutung lebensgeschichtlicher Kontinuität und langsam wirkenden Sozialisationserfahrungen hat beispielsweise Joas nicht gerechnet, sie begegnet hingegen in vielen entwicklungspsychologischen und sozialwissenschaftlichen Identitäts- und Sozialisationskonzepten.

Die Ergebnisse der empirischen Studie stärken die Annahme, „dass Werte viel eher den Charakter emotionaler Bindungen als den rationaler Entscheidungen besitzen“ (256). Was bedeutet dies für die pädagogisch sich stellende Frage nach Entwicklung und Veränderung von Werten und Weltdeutungen? Der dritte Teil (254-276) unternimmt einen Ausblick auf Möglichkeiten ethischer Bildung, zunächst mit Rückgriff auf alte Bekannte (Wilhelm v. Humboldt; Wolfgang Klafki; Peter Bieri). Für die konkrete Umsetzung von ethischen Bildungsprozessen empfiehlt Köbel, dass nicht nur die moralische Urteilsfähigkeit geschult, sondern vielmehr emotional-affektive Bindungen an Werte und Weltdeutungen in Lernprozessen ermöglicht werden sollen (266). Er plädiert für das verstärkte Ermöglichen von Selbstdeutungen, beispielsweise im Rahmen von werterhellenden Ansätzen in der ethischen Bildung, und für die Umsetzung des Just-Community-Ansatzes in schulischen wie außerschulischen Orten. Die pädagogische Arbeit mit Dilemma-Diskussionen muss emotional-affektiv durchdacht werden. Das eigene Erzählen und das Lernen an fremden Narrationen ermöglicht eine Selbstvergewisserung von ethischen Wertbindungen. Das Grundproblem jeder ethischen Bildung, nämlich die Kluft zwischen moralischem Urteil und individuellem Handeln, kann mit solchen Verknüpfungen überbrückt werden.

Dem Autor gelingt es, umfangreiche Theorien verständlich darzustellen, ohne sich in Debatten zu verlieren, und die Theorie konkret auf das eigene Ziel der empirischen Untersuchung hin zu entwickeln. Die Schlankheit des Textes zugunsten einer hohen Stringenz des Arguments überrascht immer wieder, ebenso der beinahe vollständige Verzicht auf einen Anmerkungsapparat. Im Literaturverzeichnis fehlen einzelne zitierte Werke (Oser 1996, Lind 2003, Minnameier 2015), zudem sind theologische Ansätze zu Identität, Narrativität und Entwicklungspsychologie/Religionspädagogik nicht im Blick. Wissenschaftlich ist dies anzufragen, kommt aber der Lesbarkeit entgegen.

Ein Fazit: Nach der Lektüre weiß ich mich stärker verortet im humanistischen Diskurs um Bildung, habe einzelne Personen und ihren individuellen Wertebildungs- und Wertebindungsprozess kennen gelernt, und habe als Lehrende selbst eine bessere und fundiertere Idee davon, welche Ansätze ethischer Bildung ich stärken und weiterentwickeln werde. Für Profis im Bereich sind die vorgestellten Ansätze nicht neu, doch die empirische Verknüpfung zwischen hermeneutischen und biografischen Zugängen leuchtet ein, stabilisiert die Forschungslage und ist von hoher Relevanz für die pädagogisch zentrale Frage der Wertebildung gerade in einer von Pluralität gekennzeichneten Gegenwart.

Zur biographischen Genese ethischer Lebensorientierungen
Weinheim Basel: Beltz Juventa Verlag. 2018
285 Seiten
39,95 €ISBN 978-3-7799-3824-8

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