Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Omri Boehm: Radialer Universalismus

Theorien sind häufig falsch: Geboren werden sie als plausible Schlussfolgerung einer Zeit; überleben tun sie schließlich gegen besseres Wissen – als Weisheit unserer Vorfahren. Solche veralteten Theorien wirken zwar ein wenig verstaubt, sind aber regelrecht immun gegen Kritik; schließlich haben wir uns an sie gewöhnt und auch an unsere Wertschätzung ihnen gegenüber. Im Falle der vorliegenden Neuerscheinung heißt das: Wer würde es wagen, Kant zu kritisieren, den Meisterdenker der Moderne, dessen Philosophie hier als „intellektuelle Intervention“ (151) gegen das aktuelle Identitätsgehabe von links und rechts benutzt und dabei selbst aktualisiert, in puncto Universalismus ja sogar radikalisiert werden soll – Endstation: „universeller Humanismus“ (14) bzw. „aufgeklärter Humanismus“ (15).

Die Sache ist eigentlich ganz einfach: Hier wird den „falschen Universalisten“ (17) einer wie auch immer politisierten Identitätspolitik der Prozess gemacht, um den „wahren Universalismus“ ins rechte Bild zu setzen, eigentlich sollte man sagen: zu predigen. Aber in keinem Fall: zu begründen! Denn das leistet das Buch nicht.

Schlimmer noch: Es verkennt seinen Kant, mit dem es sich gegen die ideologischen Grabenkämpfe von heute „bewaffnen“ (14) will, zieht falsche Schlussfolgerungen aus seiner Philosophie. Und es führt dabei nicht einmal in die „reale Welt“ (151) von „heute“ (11), in der „hitzige Debatten um Identität, Diskriminierung und gesellschaftliche Macht“ (11) zwar existieren und durchaus Grund zur Sorge bieten, aber nur einen Teil unserer Probleme ausmachen – als da wären Krieg in Europa und andernorts, Jahrhundert-Pandemie, Hunger, Massenflucht aus Ost und Süd, Klimawandel und Artensterben. In ihrer Symbolik wirken diese großen Übel von heute fast schon wie die sieben Plagen der Endzeit aus dem NT – und obwohl Boehm biblische Motive für seine Argumentation (zum Teil fälschlich: denn religionswissenschaftlich gilt nicht Abraham als Vater des Monotheismus, sondern dessen Quellen liegen im ägyptischen Aton-Hymnus) nutzt, findet sich kein Hinweis darauf; für den Blick auf die Parallele fehlt es dem Buch an zeitdiagnostischer Sensibilität, am Sinn für die Welt von heute. Aktuelle Beispiele dafür, wie einseitig die entsprechende Problemwahrnehmung ist, stammen von den Unruhen im Iran und in China Ende 2022, wo die Bevölkerung sich aus unterschiedlichen Gründen (Proteste gegen die Zero-Covid-Strategie in China und gegen die theokratische Machtausübung im Iran) gegen die Staatsführung stellt: Ein weltpolitisches Ereignis sind die fast gleichzeitigen Aufstände schon vor ihrem Sieg bzw. Niederlage, denn sie widerlegen den (auch von Boehm) vielfach geteilten Eindruck, wir seien Zeuge eines Epochenwechsels; überall sterbe das Freiheitsverlangen ab und damit gehe das Zeitalter der Aufklärung und Demokratie unwiderruflich zu Ende. Die Menschen hätten den verlogenen Westen satt; sie hassten seine liberale Phantomfreiheit, seine Dekadenz, seine bindungslose Emanzipation. Statt geldgierigen Nihilismus wollten sie Klarheit und Ordnung. Wie die Bürger im Iran oder in China. Gewiss, das Blatt hat sich erst nach der Drucklegung so deutlich gewandelt, aber in der Sache widerspricht es ihm eben, erst recht, wenn es darum geht, die Welt auf ihr Problem mit falschen Universalismen zu reduzieren.

Wie nah der tiefere Blick in die Welt von heute gelegen hätte, merkt man an einer Widmung des Buchs an Michel Foucault, der richtig zitiert wird, wenn es heißt, dass das „Wir“ nicht einfach vorausgehen dürfe. Im besagten Text von Foucault geht es jedoch darum, eine Geschichte des Denkens zu profilieren, die die allgemeine Form der Problematisierung angibt, mit der unterschiedliche Lösungen möglich werden – es geht um Kontinuität in der Diskontinuität. Bei Boehm wird daraus ein Kampf des einen mit dem anderen, genauer: des konkreten Wir gegen das abstrakte Wir – und umgekehrt. Sein Etikett dafür lautet: Gerechtigkeit und Gleichheit. Wie aber soll das für alle gelten, wenn sich keiner darin (freiwillig) wiedererkennen kann, wenn er und seine Welt und ihre Probleme darin gar nicht mehr (oder nur stark verkürzt) vorkommen? Das Universelle ist immer das Universelle eines bestimmten Menschen – wie uns Barbara Cassin aus den heiligen Hallen der französischen Akademie und vermittels ihrer Werke zuruft. Boehm konzentriert all seine Aufmerksamkeit auf Abstraktionen: auf den abstrakten Menschen, ein abstraktes Wir und eine abstrakte Pflicht. Das grenzt an Missbrauch der Abstraktion, weil sie lediglich als Isolator gegen das Konkrete dient und selbst weder fruchtbar gemacht, noch einem entsprechenden Test ausgesetzt wird – denn sogar die beschriebene Welt ist hier isoliert von den Problemen, denen kein Interesse geschenkt wird. Gewiss: Jede Theorie diktiert bis zu einem bestimmten Grad ihr Beweismaterial, aber im vorliegenden Buch werden die typischen Grenzen einer ach so modernen Perspektive nur allzu sichtbar und inakzeptabel – nämlich der reine Blick aufs Intra-Soziale, als ob es heute keine drängenden Probleme einer Welt des Humanen und Non-Humanen gäbe. Was ist die aktuelle Energiekrise anderes? Was ist die Corona-Pandemie anderes? Was ist der Klimawandel anderes? Das entsprechende Problembewusstsein steigt erfreulicherweise gerade rapide an. Umso unverständlicher und schmerzlicher ist sein Ausfall bei einer Neuerscheinung wie dieser.

Oder ist es Ignoranz, weil man sich lieber an seinem Feindbild abarbeitet und jene (völlig zu Recht) kritisiert, die scheinheilig die Menschenrechte beschwören und damit doch nur die westliche Vorherrschaft meinen? Dagegen setzt Boehm seine Idee vom moralischen Universalismus als einziger Quelle einer zeitgenössischen Politik, die auf unbedingte Pflichten aller Menschen pocht und Kant als ihren Gewährsmann angibt. Dass es Ignoranz sein könnte, wird an der fragwürdigen Kant-Rezeption des Buchs leider überdeutlich: Mit Kant soll das Pflichtethos heraufbeschworen werden. Die moralische Inpflichtnahme lässt sich bei Kant kaum bestreiten. Wenn aber behauptet wird, Kant habe darauf bestanden „dass der Begriff der Menschheit abstrakt bleiben müsse“ (16), um daraus eine „metaphysische Menschheitsidee“ (16) abzuleiten, muss man sich irritiert fragen, warum er dann genau umgekehrt davon ausgeht, dass der Versuch zu denken immer bedeute, sich an den Platz des anderen zu stellen; Kant nannte das die erweiterte Mentalität und sprach sich demzufolge für Andersheit, Multiperspektivität und erst insofern für Universalismus aus. Ganz anders bei Boehm und seinem abgehobenen Universalismus. Seinen moralischen Imperativ begründet Kant auch nicht mit einem besseren, weil abstrakten Menschen, sondern mit einem negativen Menschenbild, das den Menschen förmlich zu seinem Glück (beim späten Kant: zum ewigen Frieden) zwingen müsse. Universell meint bei Kant im Übrigen, dass die sittliche Verpflichtung nicht nur für Menschen bestehe, wenn sie zu Recht bestehe – sie gelte auch für die Welt der non-humanen moralisch-sittlichen Wesen. Was wiederum zeigt, mit welcher (kurzsichtigen!) Brille Boehm auf die Welt schaut.

Merke: In der Theoriebildung wird das Präfix „radikal“ entweder herangezogen, um eine etablierte Position zuzuspitzen bzw. entsprechend der veränderten Umstände zu aktualisieren – beim Radikalen Konstruktivismus der 1990er war das z.B. der Fall. Oder die Radikalität soll bis an die Wurzel reichen und das Denken auf neue Weise bereichern – wie die radikale Theorie der Volkssouveränität in der Figur des Gesellschaftsvertrags bei Jean-Jacques Rousseau. Der „Radikale Universalismus“ will eigentlich das Zweite, scheitert aber am Ersten: Kant für die Welt von heute fit zu machen und in diesem Sinne zu radikalisieren, hieße, seinen kategorischen Imperativ zu überdenken. Denn erstens ist dieser inzwischen ein Grundsatz der Anspruchslosen geworden, an den sich z.B. China in den Verhandlungen auf der COP27 hätte lehnen können, weil ihre relativ geringe Klimaambition aus ihrer eigenen Sicht jederzeit und für alle anderen zum Gesetz der Welt werden könne – das Umgekehrte aber nicht möglich wäre, nämlich den maximalen Anspruch an Klimapolitik vonseiten der Aktivisten zum verbindlichen Gesetz zu machen; dafür ist der zu anspruchsvoll. Ganz abgesehen davon, dass selbst der kategorische Imperativ kulturellen Grenzen bzw. Anwendungsbedingungen unterliegt. Wer wie in Asien die Gemeinschaft stärker wertet als das Individuum, kann keinen individuellen, moralisch verpflichtenden Gebrauch für sich davon machen. Weil das alles nicht der Fall in der vorliegenden Neuerscheinung ist, bleibt es beim Versuch eines „Radikalen Universalismus“ – bei einem Leerwort, das noch zu füllen ist. Mit den Worten von Kant gesprochen handelt es sich hier um die „Träume eines Geistersehers“. In den Feuilletons wurde dieser Traum vielfach geteilt. Das bestätigt, dass konkrete Menschen unterschiedliche Ideen vom Abstrakten haben und sie entsprechend goutieren.

Jenseits von Identität
Aus dem Englischen von Michael Adrian
Berlin: Propyläen Verlag. 22022
175 Seiten
22,00 €

ISBN 978-3-549-10041-7

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