Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Perry Schmidt-Leukel: Wahrheit in Vielfalt

Perry Schmidt-Leukel ist Professor für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Universität Münster. 2015 hielt er an der Universität Glasgow als erster Deutscher seit fünfundzwanzig Jahren die international renommierten Gifford Lectures. Es sei erwähnt, dass William James in Edinburgh 1901/02 seine Gifford Lectures hielt, die anschließend als Buch unter dem Titel „The Varieties of Religious Experience" veröffentlicht wurden und das bis heute als eines der einflussreichsten Werke in der Religionsforschung gilt.

Das vorgelegte Werk „Wahrheit in Vielfalt. Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie" geht sowohl auf seine Gifford Lectures (2015) als auch auf seine Vorlesungsreihe an der Zhejiang University in Hangzhou (China) (2014) zurück. Wie dem Buchumschlag zu entnehmen ist, soll dieses umfangreiche Buch laut Alan Race – dem Autor der bahnbrechenden Studie „Christians and Religious Pluralism: Patterns in the Christian Theology of Religions" (1983) – der bisher wichtigste Beitrag sein, „der aus den Debatten der letzten Jahrzehnte in der Theologie und der Komparativen Theologie hervorgegangen ist.“ In der Tat erhebt das Werk den großen Anspruch, darzulegen, dass religiöse Wahrheit in Vielfalt besteht – und dass alle großen religiösen Traditionen zu dieser Einsicht kommen können und sollen. Das Werk will zeigen, wie pluralistische Religionstheologie zu einer interreligiösen Theologie führt, die vor einer interreligiös durchzuführenden Aufgabe steht, bei der alle einander ebenso bereichern wie herausfordern werden.

Dieser Anspruch wird durch einen neuen theoretischen Ansatz, den der „fraktalen“ Interpretation der religiösen Vielfalt, eingelöst. Die Grundprinzipien und methodologischen Leitlinien der von Schmidt-Leukel entworfenen interreligiösen Theologie werden eingangs – ausgehend vom faktisch bestehenden religiösen Pluralismus – ausführlich thematisiert (Kapitel 1. Eine Erste Orientierung: Religiöser Pluralismus; Interreligiöse Theologie), dann durch Pluralismen in Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und Chinesischen Religionen verdeutlicht (Erster Teil: Religiöser Pluralismus, Kapitel 2 bis 7). In der zweiten Hälfte des Werks (Zweiter Teil: Interreligiöse Theologie, Kapitel 9 bis 14) wird die Hinführung vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie unternommen (Kapitel 8), die Prinzipien und Methodik der interreligiösen Theologie vorgestellt (Kapitel 9), die zentralen Fragestellungen der interreligiösen Theologie im Dialog der drei religiösen Traditionen von Christentum, Islam und Buddhismus ausführlich diskutiert (Kapitel 10: Der Prophet und der Sohn; Kapitel 11: Der Sohn und der Buddha; Kapitel 12: Der Buddha und der Prophet, Kapitel 13: Auf dem Weg zu einer Interreligiösen Schöpfungstheologie), und schließlich mit der fraktalen Theorie religiöser Vielfalt untermauert (Kapitel 14).

Die Leitidee des Werks geht von zwei Beobachtungen aus. Die erste wird dem Buch als Zitate – aus einem traditionellen Hadith und aus Joseph Ratzingers Gesprächsbuch „Salz der Erde" – vorangestellt: Es gibt so viele Pfade zu Gott, wie es Menschen gibt. Die zweite Beobachtung besteht darin, dass es den Islam, das Christentum, den Buddhismus als uniforme Gebilde nicht gibt; innerhalb jeder Religion gibt es eine enorme Vielfalt, deren Strukturen öfters jenen der globalen Religionsvielfalt entsprechen. Diese Ähnlichkeiten zwischen den Strukturen interreligiöser und intrareligiöser Vielfalt lassen sich als „Fraktale“ beschreiben. Anders ausgedrückt: Die Unterschiede zwischen den Religionen (interreligiös) finden sich vielfach modifiziert und in anderer Gestalt als Unterschiede innerhalb der Religionen (intrareligiös) und als unterschiedliche Formen von Religiosität, die ein religiöses Subjekt im Laufe seines Lebens durchschreitet, einschließlich der sich herausbildenden Formen hybrider und multireligiöser Identität (intrasubjektiv), als „fraktale“ Strukturen wieder.

Der Verfasser erörtert eingangs vier Möglichkeiten, wie man die faktisch vorhandene Vielfalt der Religionen in Bezug auf ihren möglichen Wahrheitsgehalt interpretieren kann. Der Naturalismus geht erstens davon aus, dass alle Religionen der Welt falsch sind, und versucht Religionen auf nicht-religiöse Phänomene zu reduzieren. Wenn nicht alle Religionen falsch sind und nur einer von ihnen die Wahrheit zugesprochen wird, so handelt es sich zweitens um einen theologischen Exklusivismus. Sollen mehr als eine der Religionen wahr sein, so könnte drittens laut dem Inklusivismus nur eine einzige Religion die Höchstform dieser Wahrheit bilden. Zumindest einige der Religionen könnten gleichermaßen wahr sein, was viertens einen Pluralismus zur Folge hat. Diese letzte Option greift Schmidt-Leukel auf und vermag in seinem Werk dann mit Hilfe der „fraktalen“ Interpretation der religiösen Vielfalt auf interreligiöser, intrareligiöser und intrasubjektiver Ebene ausführlich und plausibel zu zeigen, auf welche Weise die eine religiöse Wahrheit in Vielfalt existiert.

An einem religionswissenschaftlich wie theologisch interessanten Beispiel kann verdeutlich werden, dass die buddhistische – nicht-theistische – Auffassung der Welt als Produkt des Karma und christliche – theistische – Auffassung der Welt als Schöpfung auf denselben religiösen Wahrheitsgehalt hinauslaufen: Im Kapitel 13 skizziert der Verfasser die buddhistische Kritik an theistischen Lehren, die alle aus dem Hinduismus stammten, und deckt hinter der buddhistischen Ablehnung theistischer Argumente eine alternative Schöpfungstheorie auf, welche die Schöpfung als einen kontinuierlichen Prozess, der durch das kollektive Karma angetrieben wird, auffasst. Wie kann man aber die christliche Auffassung der guten Schöpfung mit der gängigen Vorstellung, die in vielen Lehrbüchern über Buddhismus zu lesen ist, wonach die karmische Welt unheilvolles Leid ist, vereinbaren?

Schmidt-Leukel macht zu Recht darauf aufmerksam, dass sich im Mahayana-Buddhismus drei gedankliche Linien finden, die auf den Anteil der buddhistischen letzten Wirklichkeit, des Nirvana, an der karmischen Schöpfung dieser Welt hinweisen. Erstens findet man hier die Vorstellung, dass die Buddhas mit Hilfe positiver Karma-Verdienste Buddha-Länder erschaffen, wo optimale Bedingungen herrschen, sodass die bewussten Wesen, die dort wiedergeboren werden, ihr spirituelles Ziel erreichen. Zweitens gibt es auch die Tathagatagarbha-Tradition, die die Gegenwart der letzten Wirklichkeit als Buddha-Natur im menschlichen Geist in der Welt postuliert, welche den Menschen dazu bringt, den buddhistischen Pfad einzuschlagen. Drittens gibt es die damit verbundene Vorstellung, wonach die Buddha-Natur nicht nur als wahre Natur aller bewussten Wesen, sondern als die wahre Natur von allem verstanden wird. Schmidt-Leukel zieht hier eine Parallele mit der christlichen thomistischen Schöpfungstheologie, die die Frage nach der Ursache der Existenz der Welt so beantwortet: Die Welt existiert, weil Gott ihr wahres Ziel, ihre Zweckursache ist. Insofern lässt sich der Schluss ziehen, dass auch im Christentum alle konkreten Bilder der letzten Wirklichkeit – wie die eines personalen Gottes, der die Welt durch einen Akt seines ewigen Willens schafft – nicht als wörtliche Beschreibungen missverstanden werden dürfen; vielmehr haben sie die Funktion, uns auf die unaussprechliche letzte Wirklichkeit zu orientieren.

Es lässt sich nicht abzusehen, wann dieses lehrreiche und theoretisch innovative Werk Perry Schmidt-Leukels in der (heute zumeist naturalistischen) Religionswissenschaft und in der (oft allzu konfessionell gebundenen) Theologie die gebührende Resonanz finden wird; dafür ist es möglicherweise seiner Zeit zu weit voraus. Jedenfalls kann das Buch als die Spitze des religionspluralistischen Ansatzes einer breiten interessierten Leserschaft, insbesondere aber den Studierenden der Theologie und Religionswissenschaft, empfohlen werden.

Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie
Aus dem Englischen von Monika Ottermann
Bearbeitet und autorisiert von
Perry Schmidt-Leukel
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2019
413 Seiten
36,00 €
ISBN 978-3-579-08249-3

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