Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Peter Neuner: Turbulenter Aufbruch

Die sechziger Jahre gelten in Westeuropa als Sattelzeit der Postmoderne bzw. als Durchbruch zur gesellschaftlichen „Fundamentalliberalisierung“ (Habermas). Die vormals im Wesentlichen von Eliten und Boheme geteilten kulturellen Standards erzielen nun Breitenwirkung und verändern mit der Zeit die mentalen Befindlichkeiten aller Zeitgenossen. Während Familien und gesellschaftliche Gruppen, Wirtschaft, Politik und staatliche Einrichtungen den Wandel insgesamt gut und zu ihrem Vorteil verarbeitet haben, scheint einzig die katholische Kirche festzustecken in jenem „mythischen Jahrzehnt“. Noch immer laboriert sie an gesellschaftlich längst überwundenen Konflikten rund um Themen wie Autorität, Institutionalität, Individualität, Authenzität, Pluralität, Gehorsam und Freiheit. Zivilisatorisch scheint die Kirche nicht wirklich von der Stelle zu kommen. Hat sie die Ausfahrt in Richtung Zukunft damals verpasst?

Daran zu erinnern, dass die Dinge zumindest partiell anders liegen und auch die katholische Kirche Teil des „turbulenten Aufbruchs“ gewesen ist, hat sich der emeritierte Münchener Dogmatiker Peter Neuner vorgenommen. Selbst unverdächtig, die Konzilsimpulse in seinem theologischen Schaffen nicht nachdrücklich genug aufgegriffen zu haben, stellt der renommierte Autor Neujustierungen vor, die im Konzil wurzeln und allen retardierenden Tendenzen zum Trotz das Leben der Kirche in der Gegenwart prägen. Neuner verdeutlicht an zahlreichen Beispielen, dass die heutige Gestalt der katholischen Kirche nur noch ganz wenig mit dem zu tun hat, was bis 1960 deren Wesen und Psychodynamik ausgemacht hat. Diese „Erfolgsgeschichte“ zu erzählen ist ihm offensichtlich auch deshalb ein Anliegen, weil die Konzilsgeneration aus ihren Multiplikatoren-Funktionen längst ausgeschieden ist und die Mehrheit der jetzt Lehrenden kaum noch vorkonziliare Settings kennt. Das Buch trägt insofern dazu bei, das kommunikative Gedächtnis (Assmann) in die kollektive Erinnerung der bundesdeutschen Kirche einzugliedern.

Neuner skizziert zunächst wesentliche Merkmale des Aufbruchsjahrzehnts (21-49) sowie die Kernanliegen des II. Vatikanischen Konzils (50-84), um anschließend im umfangreichsten Abschnitt des Buches die „kirchlichen Ereignisse im langen Jahr 1968“ darzustellen (85-201). Durch die Adaption des in der Geschichtsschreibung eingebürgerten Begriffs vermeidet er die Fixierung auf Kalendergrenzen und stellt die Ereignisse in größere Zusammenhänge hinein. So kann die bedeutende Enzyklika „Populorum progressio“ aus dem März 1967 ebenso in die Darstellung aufgenommen werden wie „Sacerdotalis caelibatus“ (Juni 1967). Weiter finden natürlich Medellin und „Humanae vitae“ ihren Raum, aber auch heute weithin vergessene Ereignisse wie das „Glaubensbekenntnis“ Pauls VI., das Lehrbeanstandungsverfahren gegen Hubertus Halbfas oder die Kontroverse zwischen Kardinal Suenens und dem Papst um die Struktur der Kirche. Es zeigt sich, dass die ganze Ambivalenz der nachkonziliaren Entwicklung schon „1968“ gegenwärtig ist. Es macht deshalb Sinn, dass der Autor in weiteren Kapiteln das Einfrieren der Reformen, die scharfen innerkirchlichen und theologischen Konflikte der Folgejahrzehnte, die Gründung neuer geistlicher Bewegungen und die Entwicklungen am äußersten rechten Rand der Kirche mit in den Blick nimmt (202-251). Zusammen mit dem „Ausblick: Was ist geblieben?“ (252-287) umfasst diese Nachgeschichte des turbulenten Aufbruchs noch einmal ein Drittel des Buches.

Neuner versteht sich als Chronist und vermeidet ein Auskeilen nach links und rechts. Gleichwohl ist seine Position in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen um das Verständnis von Laie und Priester, den Status der universitären Theologie gegenüber dem bischöflichen Lehramt, die Ökumene oder die Theologie der Befreiung glasklar. Zu einem ungewollten Missverständnis könnte hingegen der Aufbau des Buches verleiten. Die studentische Revolte samt ihren Exaltiertheiten hat nämlich nicht das Geringste zu tun mit der Vorbereitung und Durchführung des Zweiten Vatikanischen Konzils, wahrscheinlich nicht einmal mit dessen Rezeption. Das Konzil arbeitete die Hinterlassenschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf, ist geistesgeschichtlich also einer anderen Epoche zuzuordnen als die Studentenproteste und deren Anliegen. Über die von Neuner vertretene These, dass die Revolte der Jugend dazu beigetragen hat, den Geist des Konzils wieder in die Flasche zurückzupfropfen, wäre sicher noch einmal zu diskutieren.

In der Geschichtswissenschaft ist der Mythos von „1968“ längst entzaubert. Die Ereignisse, die mit dem „Revolte-Jahr“ verbunden werden, beruhen auf längerfristigen gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen. Auch die rebellische Jugendkultur nimmt schon seit den 1950er Jahren Gestalt an und erstreckt sich weit über das akademische Milieu hinaus. Es wäre deshalb gut, wenn die jüngst von politisch rechtskonservativer Seite wieder dämonisierten Jahre einer nüchternen Betrachtung wichen und nicht innerhalb der Kirche zu neuen Diskussionen führten. Dieses Schattenboxen bringt niemanden weiter.

Peter Neuner hat mit „Turbulenter Aufbruch“ ein geistesgeschichtlich ausgerichtetes   Sachbuch vorgelegt, dessen Lektüre allen interessierten Laien in der Kirche und insbesondere den Lehrerinnen und Lehrern nachdrücklich empfohlen werden darf. Es liefert einen Rückblick in eine Zeit, in der Kirche und Theologie noch zu bewegen vermochten, mindestens aber im Strom der Zeit mitzuschwimmen gewillt waren. In diesem Sinne wäre zu wünschen, dass das Konzil in der Praxis endlich zu Ende geführt wird.

Die 60er Jahre zwischen Konzil und konservativer Wende
Freiburg: Herder Verlag. 2019
310 Seiten m. s-w Abb.
32,00 €
ISBN 978-3-451-38414-1

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