Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Petra Bahr: Wie viel Religion verträgt unsere Gesellschaft?

Mit der zum Titel gewordenen Frage bezieht sich die Regionalbischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover auf eine Wahrnehmung von Religion, die deren öffentliche Präsenz mit der des Islams gleichsetzt. Und dann ist es zu der Assoziation von Gewalt und Terror nicht weit. Ohne die Gefahr eines religiös motivierten Terrors zu verharmlosen, macht sie mit Recht darauf aufmerksam, dass Fanatismus und Gewalt auch dort lauern, wo unter Berufung auf eine angeblich neutrale Vernunft religiöse Wahrheitsansprüche nicht minder fundamentalistisch zurückgewiesen werden. Hier erkennt sie eine dem Laizismus inhärente Gefahr, die sich historisch im jakobinischen Terror gezeigt habe und im Atheismus eines Richard Dawkins oder Michael Schmidt-Salomon regelmäßig verdrängt werde. Den gleichen Vorbehalt äußert sie allerdings auch gegenüber denjenigen, die sich zwar gerne auf das christliche Abendland berufen, aber in ihrer eigenen Lebensführung sich nicht zu demjenigen christlichen Glauben bekennen, dessen Tradition sie als Schutzwall gegen die Ausbreitung des Islams beschwören. Ihnen wirft sie vor, dass sie das Christentum als „Identitätsattrappe“ für Zwecke politischer Selbstbehauptung instrumentalisieren. Vor allem vergäßen sie, dass „das christliche Abendland […] der geopolitische und geistige Raum verheerender religiöser Bürgerkriege“ gewesen sei, in dem „sich weltliche Machtansprüche nur religiös ausstaffierten“. Insbesondere gebe es „in der Herzkammer des Christentums“ eine „Judenfeindlichkeit, die […] geistige Grundlage für den Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts“ geworden sei und als „kultur- und zivilisationsstiftende Kraft […] ihre zerstörerische Fratze gezeigt“ habe.

Bei der zuletzt genannten Äußerung ist es verwunderlich, wie man nach den bahnbrechenden Studien von Angenendt ohne weitere Differenzierung zu ihr gelangt. Die erstgenannte stellt hingegen zu Recht fest, dass es bei den so genannten Religionskriegen keineswegs um die politische Durchsetzung religiöser Wahrheitsansprüche ging, sondern die Reformation einen ungewollten Strudel machtpolitischer Neuordnung auslöste. Dann wäre es aber einmal interessant gewesen zu erfahren, was der christliche Glaube abseits seiner zu Recht kritisierten politischen Funktionalität für die Autorin bedeutet.

Umso differenzierter fällt ihr Blick auf die öffentliche Wahrnehmung des Islams aus. Mit Recht behauptet sie, dass die öffentliche Debatte um den Islam zu einem großen Teil eine Kopftuchdebatte sei. Während sie im Blick auf das Christentum mit der Zuschreibung von „Identitätsattrappen“ recht großzügig umgeht, wird nun mit dem Kopftuch einem „Stück Stoff“ und seiner symbolischen Aufladung eine wohlwollende Differenzierung zuteil.

Der bereits genannte Arnold Angenendt attestierte dem Prozess der Aufklärung eine positive Wahrnehmung des Islams, und diese zeigt sich etwa dort, wo Lessings Ringparabel mit ihrer Idee vom Wettstreit um das Gute auf die Sure 5,48 des Koran zurückgreift. Angenendt fügte aber hinzu, dass diese Öffnung gegenüber dem Islam von einer „Missachtung des Eigenen“ begleitet werde. Es fällt nicht schwer, das vorliegende Buch in diesem Sinne der Aufklärung zuzuordnen.

Allerdings schreibt die Autorin dem Christentum dann doch einen ganz entscheidenden Wirkungsimpuls zu, den es in die europäische Geschichte eingetragen habe: den Vorrang des Individuums vor dem Kollektiv. Aber haben die eingangs inkriminierten Beschwörer des christlichen Abendlandes nicht möglicherweise gerade diesen Impuls gemeint? Diese Frage stellt sich umso mehr, als die Autorin betont, dass das daraus entwickelte Menschenbild noch in seiner säkularisierten Gestalt bis heute wirksam sei.

So bleibt die Leitfrage, wie viel Religion unsere Gesellschaft vertrage, weitgehend unbeantwortet. Der einzige Ansatz, den das vorliegende Buch dazu vorlegt, besteht im Hinweis auf Schleiermachers Verständnis von Religion als demjenigen Sinn und Geschmack für das Unendliche, der alle Verabsolutierung des Endlichen verbietet. Das Bewusstsein einer solchen „Religionskritik“, die „aus dem Geist der Religion erwächst“, gälte es allerdings weiterzuentwickeln.

Berlin: Nicolai Verlag. 2018
66 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-96476-004-3

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