Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Philippe Jaccottet: Clarté Notre-Dame

Wenn ein Buch aus dem Französischen trotz meisterhafter Übersetzung eines nicht zufällig preisgekrönten Übersetzerduos (Elisabeth Edl und Wolfgang Matz wurden 1994 Preisträger des Petrarca-Übersetzerpreises) in seiner deutschen Ausgabe den französischen Originaltitel Clarté Notre-Dame beibehält, muss es dafür einen Grund geben, denn so etwas wie Denglisch (eine beinahe selbstverständliche Verwendung des Englischen im deutschen Sprachgebrauch von heute) ist bei dem Französischen weder der Fall noch ist es mit ihm so leicht machbar, nachdem das Englische dem Französischen als Lingua franca der Globalisierung inzwischen klar den Rang abgelaufen hat. Der Grund für die Beibehaltung des Originaltitels kann im Buch liegen oder außerhalb von ihm. Im Buch läge er z.B., wenn der Ausdruck unübersetzbar schiene, er also eine Art Eigensinn hätte, den man zwar umschreiben, nicht aber adäquat auf den Begriff bringen könnte. Außerhalb vom Buch läge der Grund für die Beibehaltung des Originaltitels, wenn seine Übersetzung ein schweres Missverständnis in der Welt seiner übertragenen Bedeutung riskierte.

Bei Philippe Jaccottet trifft sowohl der eine als auch der andere Grund zu: Übersetzte man den Titel mit „Klarheit Notre-Dame“ allzu wörtlich ins Deutsche, entstünde leicht der vollkommen falsche Eindruck, es handle sich um einen der nicht mehr zählbaren Beiträge zur Brandkatastrophe der Kathedrale Notre-Dame in Paris von 2019 und ihrer handwerklichen wie gesellschaftlichen Restaurierung als Spitzeneinrichtung öffentlichen Interesses, in dem endlich die Frage nach der Brandursache geklärt und nicht zuletzt darüber informiert wird, welche Pläne zur Umstrukturierung des kirchlichen Innenraums die Diözese genau hat, aber in sämtlichen Sitzungen dazu unverständlicherweise noch immer recht vage bleibt – und warum es außen bei der alten Fassade bleiben muss, wenn es innen anders aussehen soll. Nichts läge dem Buch von Jaccottet wohl ferner als eine Beteiligung an diesem Diskurs, schon geografisch. Denn bei Clarté Notre-Dame handelt es sich nicht um die imposante Kathedrale von Paris, sondern um ein relativ unscheinbares Dominikanerinnenkloster in der (selbst für Künstler und Schriftsteller) etwas abgelegenen südlichen Provinz der Drôme Provençale – es ist dessen Eigenname und insofern Grund genug, seinen Namen auch in Deutsch anzuführen, wenn ihm das Buch gewidmet ist.

Allerdings kommt es in diesem beinahe testamentarischen Spätwerk von Jaccottet eigentlich nicht einmal auf dieses Kloster und den besonderen Ort an. Und das hat bei ihm Methode, ja darin besteht seine Literatur des Uneigentlichen, all seiner legendären Verwurzelung in seiner „région“ und all seiner vor allem französischen Wirkmächtigkeit zum Trotz. Als Jaccottet 2014 noch zu seinen Lebzeiten in die Klassiker-Ausgabe der Pléiade aufgenommen wurde, hatten das seit ihrem Bestehen von 1931 vor ihm nur 14 andere Autoren geschafft, darunter so illustre Namen wie André Malraux, Paul Claudel oder kurz vor ihm Milan Kundera. Damals war Jaccottets Werk bereits in Schulen und Universitäten viel gelesen und oft studiert; er gehörte zweifelsohne bereits zum Kanon der französischen Weltliteratur. Trotzdem galt das Werk als unförmig, nicht gut zu (be-)greifen (so François Xavier respektvoll beim Einzug von Jaccottet in den literarischen Olymp der Pléiade). Den Grund dafür kann man nicht zuletzt in Clarté Notre-Dame wiederfinden: Auf der einen Seite entzieht sich der Autor der literarischen Einordnung (schon durch sein stilistisches Changieren zwischen Prosa und Lyrik wie auch in Clarté Notre-Dame) und auf der anderen Seite setzt er ganz auf Verwesentlichung der Sprache, nicht zuletzt auf einen konkreten Gehalt und präzisen Ausdruck der „Vorsicht“ (17) seiner Beobachtungen und Beschreibungen. Soll heißen: Entwurzelten Menschen von heute stellt er entwurzelte Worte zur Seite (14). Jaccottet dringt damit ins Innerste des Vorübergehens (des „Werdens im Vergehen“, wie sein Vorbild Hölderlin es nennt) ein. Was sich nicht wandelt, ist immer die Bewegung, könnte man wahrscheinlich sowohl von Hölderlin als auch von Jaccottet behaupten und darin besonders ein Fanal seines Werkes sehen. Er präsentiert das Wilde, nicht Geordnete und Natürliche/Ungeschminkte als das, was „letzten Endes sogar passte“ (9) – einem Unvermeidlichen und Geheimnisvollen stets auf der Spur ins „unendlich Offene, das mich leben lässt“ (18). Das Thema des Übergangs hat ihn ein Leben lang begleitet, weil er an sich selbst gemerkt hat, dass „das, was ich festzuhalten versuche, zu etwas immer Fernerem wird“ (32).

In gewissem Sinne hat Jaccottet uns mit seiner Literatur der Uneigentlichkeit trotzdem eine Philosophie des Wesentlichen geschenkt, selbstverständlich nicht der essentiellen Substanzen, die schnell vergehen, sondern der Formen, die lange bleiben – nämlich passend zur Bewegung eine Sprache ihrer Erkundung, die von uns gesprochen und nur zu uns gesprochen wird und uns dadurch wahrhaftig macht (22). Seinem minimalistischen Stil fehlt es dabei nicht an der nötigen Strenge, alles Sagbare immer wieder neu zu prüfen, als menschliche Sprachgemeinschaft quasi permanent in „halber Höhe zwischen Himmel und Erde“ (22) hin- und herzuschweben, nicht alles Beobachtbare auch unmittelbar zu beschreiben/festzuhalten, sondern ganz in der Bewegung zu bleiben und nicht von ihr abzulassen noch von ihr abzusehen, um unter dem Schirm aus Worten beim Anblick von etwas „nichts mehr zu sehen“.

Ein Schelm, wer dabei letzten Endes nicht doch noch an Notre-Dame de Paris und ihre überbordende Berichterstattung (neudeutsch: overnewsed) denkt, und erst recht einer, der dabei sogar die Vergeblichkeit bemerkt, unsere behüteten Ordnungen der Moderne vor ihrer Ablösung, dem Sturz ins Wilde (in Krieg) zu bewahren. Jaccottet ist überzeugt, dass sich für uns alle das „wahre Glöckchen der Wandlung“ (98) ankündigt. Wer wollte ihm heute widersprechen? Und wie? In Clarté Notre-Dame schenkt uns Jaccottet „Zeichen, die Hilfen sind und die seltener werden“ (31); Zeichen der Bewegung, Zeichen des Lebens (75f). Nach dieser Klarheit sehnt er sich (81); ihr gilt seine Parteinahme für das provenzalische Kloster und seiner „kleinen Vesperglocke von unglaublicher Reinheit“ (75). Denn diese Zeichen, „sie helfen [allen, sogar] dem Himmel“ (93) – lautet seine Hoffnung für die Menschheit und ihre Welt.

Gedichte und Prosa
Deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz
Göttingen: Wallstein Verlag. 2021
112 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-8353-5090-8

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