Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Philippe Pozzo di Borgo: Ich und Du

Wer kennt die französische Filmkomödie „Ziemlich beste Freunde“ aus dem Jahr 2011 nicht? Der enorm erfolgreiche Film, der im Original „Intouchables“ heißt, basiert auf der wahren Geschichte des ehemaligen Pommery-Chefs Philippe Pozzo di Borgo, der sich durch einen Absturz während eines Gleitschirmflugs eine hohe Querschnittlähmung zugezogen hat und seitdem im Rollstuhl sitzt. 2012 erschien dann das Gemeinschaftswerk „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft“, das er zusammen mit dem legendären Gründer der weltweiten „Arche“-Bewegung, Jean Vanier, und Laurent de Cherisey, dem Gründer der französischen Gesellschaft Simon de Cyrèn, geschrieben hat und in dem er erstmals, ausgehend von seinem persönlichen Schicksal, eine Vision für eine andere Gesellschaft umschreibt, die die Verletzlichkeit, die unverstellte Offenheit für den Anderen, in ihr Zentrum stellt. Interessanterweise sind die beiden Mitautoren bekennende Christen, die in Frankreich zwei bedeutende Hilfswerke für Menschen mit geistiger wie körperlicher Beeinträchtigung ins Leben gerufen haben. Pozzo di Borgo betont hingegen immer wieder, dass er, im Gegensatz zu seiner kurz nach seinem Unfall an Krebs verstorbenen Frau Beatrice, nicht glauben kann.

Sein jüngstes Buch trägt den Titel „Ich und Du. Mein Traum von Gemeinschaft jenseits des Egoismus“. Schon an dieser Stelle sei dieses kleine Manifest der Solidarität all jenen empfohlen, die über eine inklusive Gesellschaft ernsthaft nachdenken, die dabei aber gleichzeitig spüren, dass Inklusion etwas völlig anderes ist als die Herstellung baulicher Barrierefreiheit. Es geht in „Ich und Du“ um nicht weniger als um eine Revolution der sozialen Beziehungen und somit um eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die sich scharf abgrenzt von einer durch permanenten Wettbewerb gehetzten und dabei sich verlierenden Welt. Dieser Welt, die auch Pozzo di Borgos Welt vor seinem schweren Unfall war, bietet er seine persönliche „Läuterungsgeschichte“ nach seinem Absturz aus der Welt der Superreichen und Erfolgsverwöhnten als Therapie an.

Biographische Passagen über sein beschwerliches Leben als Tetraplegiker (Lähmung der vier Gliedmaßen) wechseln sich ab mit eindrucksvollen Reflexionen über das, was Beziehung im Innersten sein kann: „Erneut ist es die Stille, die, ohne Angst und Vorurteile, zur Begegnung führt. Dafür muss ich nicht ganz auf Worte verzichten. Aber innerlich bin ich vollkommen still, räume dem anderen Platz ein, damit er mich berühren kann. Das erfordert Verfügbarkeit und mehr noch – Selbstentäußerung. Man muss völlig entwaffnet und somit ungefährlich sein, um etwas mit den anderen aufzubauen.“ In diesem Zitat klingen sämtliche Motive an, die für Pozzo di Borgo zu den wichtigsten Initiationsmomenten seines neuen Lebens geworden sind: Stille, Zeit und Verletzlichkeit. Sie können für ihn nicht weniger als das Ich, die Beziehung mit sich selbst verändern und dabei auch den Blick auf die uns umgebende Welt korrigieren, in der Aktivität, Abgrenzung und Selbstbestimmung zu Inbegriffen gesellschaftlichen Strebens geworden sind. „Wenn wir unsere Anteile an Verletzlichkeit einbeziehen, ändert sich unser Blick auf die Welt. In dieser Zärtlichkeit und dieser Achtsamkeit für die Würde des anderen finden wir einen Weg, um die Gesellschaft zu heilen.“

Trotz seines an manchen Stellen etwas zu nachdrücklichen Appellcharakters und seines bisweilen redundanten Stils ist „Ich und Du“ ein eindrucksvolles Plädoyer für eine Gesellschaft der Zukunft, die lernt, ihre Masken abzulegen und ein neues Zusammenleben jenseits des Egoismus und der Selbstoptimierung einzuüben. Das mag für die meisten Ohren naiv klingen. Aber diese Hoffnungsbotschaft stammt von einem Mann, der – von einer existentiellen Grenzerfahrung ausgehend – eine bewundernswerte Lebenswende glaubhaft vollzogen hat und an ihr gereift ist. Vom Rand her hält er unserer Lebensweise den Spiegel vor und bietet seine Philosophie der vermeintlichen Schwäche als Therapeutikum an.

Auch wenn Pozzo di Borgo sich nicht als Christ bezeichnen würde, spricht aus seinem Buch eine starke Spiritualität der Barmherzigkeit. Ihm gelingt ein eindrucksvoller Perspektivwechsel, der die asymmetrische Ordnung in der Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung kreativ verändert. „Ich und Du“ sei jedem zur Lektüre empfohlen, der eine Vorstellung von einer inklusiven Gesellschaft jenseits üblicher Klischees erhalten will.

 

Berlin: Hanser Berlin. 2015

152 Seiten

17,90 €

ISBN 978-3-446-24945-5

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