Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Ralph Ghadban: Allahs mutige Kritiker

In einem Satz: Es ist ein lohnendes Unterfangen, dieses Buch ab Seite 128 zu lesen – den Teil davor vergessen Sie besser! Dort stellt der Autor seinem Anliegen ohne Not selber ein Bein.

Doch fangen wir mit dem Guten an: Seine Stärken entwickelt Ghadban (ab Seite 128) in einer kompetenten Darstellung der großen innerislamischen Vielfalt zur Sicht auf die eigene Religion, wie sie in den meist urbanen Milieus gebildeter Muslime in vielen islamisch geprägten Ländern seit den Reformbestrebungen des 19. Jahrhunderts gelebt wurde – und bis in die aktuelle Zeit hinein gelebt wird. Hier wird die bunte Diversität der Meinungen zwischen konservativen Theologen, Reformtheologen, Main-Stream-Muslimen, „Koranisten“ (welche die orthodoxe Tradition der Sunna kritisch sehen oder ablehnen), Muslim-Brüdern, Salafisten, bis hin zu säkularen Denkern deutlich und überzeugend dargestellt. Diese bunte Szene ist fachintern natürlich bekannt und wissenschaftlich ausgewertet (für den Anteil der türkischsprachigen Islamtheologie z.B. durch die Arbeiten von Felix Körner), aber außerhalb akademischer Kreise findet dies bisher wenig Resonanz. Hier ist die allgemein verständliche Darstellung von Ghadban auch für Nichtfachleute eindeutig ein Gewinn. Reizvoll und neu ist in diesem Kontext, dass er die historische Darstellung der Zeit zwischen ca. 1860 und 2010 um eine lange Dokumentation (100 Seiten) von arabischsprachigen Foren im Internet ergänzt. Dieser Teil deckt die neueste Zeit seit der arabischen Revolution im Jahre 2011 ab und präsentiert nicht nur gelehrte Theologen, sondern auch allgemein gebildete Musliminnen und Muslime, die sich kritische Fragen zur überlieferten Sicht ihrer Religion auf die koranische Offenbarung, auf die Person des Propheten Muhammad, auf die orthodoxe Sunna, auf Menschenrechte, Religionsdialog, Geschlechtergerechtigkeit, Apostasie, Politik & Religion etc. stellen – und diese Fragen mit sehr unterschiedlicher Fachkompetenz untereinander diskutieren. Hilfreich ist dafür auch die Auflistung und kurze Einordnung der zitierten YouTube-Autoren (314-317). Diese Übersetzungen aus dem arabischsprachigen Teil des Internets geben einen hochinteressanten Einblick in das Panoptikum unterschiedlichster kritischer Leben- und Glaubenssichten heutiger Muslime, die uns für unseren eigenen, sog. „westlichen“ Umgang mit Religion und Kultur immer wieder recht vertraut erscheinen. Es ist vielleicht die wichtigste Botschaft dieses Buches, im Sinne eines Faktenchecks zu dokumentieren, dass es diesen – für uns als „normal“ geltenden – Umgang mit Religion und Tradition in den gebildeten muslimischen Milieus islamisch geprägter Länder durchaus gibt. Wichtig ist dies auch deswegen, weil in Deutschland und Europa aus der politischen Ecke autoritärer Nationalradikaler immer wieder das Mantra gebetet wird, so etwas würde und könne es im angeblich „archaischen vormodernen Islam“ nicht geben.

Die hier von Muslimen geäußerten Positionen sind m.E. allerdings weniger eine „neue Religionskritik“ – so die Überschrift dieses Buchteils –, sondern prägten bereits die Diskussionen gebildeter Kreise, die ich selber in den 1980er Jahren während meines Studiums in Damaskus und späterhin während meiner Zeit in Kairo (1997-2014) kennengelernt habe. Nur dass unsere Diskussionen sich damals auf intellektuelle Zirkel und auf ihre mediale Verbreitung in wenigen Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen beschränkten, soweit dies in den einzelnen Staaten und zu bestimmten Zeiten kulturpolitisch opportun und möglich war. Hier hat das Internet, speziell seit der „Arabellion“, eine weitaus größere Öffentlichkeit ermöglicht, in der eine konsequent entschränkte Fortführung und Weiterentwicklung der damaligen Diskussionen möglich ist.

Ghadban hätte allerdings an dieser Stelle deutlicher darauf hinweisen können, dass die innerislamische Religionskritik in den arabischen Staaten seit jeher und bis heute zu eigenen Bedingungen funktioniert. Nicht automatisch und überall ist damit die Vorstellung einer säkularen Gesellschaft westlichen Zuschnitts verbunden. Gerade im kritischen islamischen Mainstream wird häufig von einer religiösen, aber toleranten Fundamentierung menschlicher Existenz und gesellschaftlicher Strukturen ausgegangen. So verstand sich z.B. der von Ghadban (145) angeführte ägyptische Koraninterpret Nasr Hamed Abu Zaid, den ich selber noch kennenlernen durfte, nicht etwa als liberaler Säkularer oder als Religionskritiker, sondern als frommer Muslim und ḥāfiẓ, der den Koran auswendig rezitierte – und der als Wissenschaftler gleichwohl eine postmoderne literaturwissenschaftliche Kommunikations- und Aktantentheorie zum Verständnis der koranischen Offenbarung angewendet hat. An dieser Stelle des Buches hätte das beschriebene religionskritische Milieu stärker differenziert und in seinen internen Spannungen dargestellt werden können. Ebenso hätte es das Verständnis der „neuen Religionskritik“ ab 2011 vertieft, wenn Ghadban als Kontrastfolie dargestellt hätte, wie zeitgleich in offiziellen islamischen Institutionen die Abwehr gegen die religiösen Positionen des IS organisiert wurde. Immerhin haben Präsident al-Sissi in Ägypten, König Abdullah II. in Jordanien und König Muhammad VI. in Marokko das islamische Establishment ihrer eigenen Länder gegen den IS massiv theologisch und politisch in Stellung gebracht, so dass in den Jahren 2014 bis 2017 eine ganze Reihe von offiziellen Dokumenten entstanden, die auf der Basis islamisch begründeter Bürger-, Frauen- und Minderheitenrechte eine „moderne“ Positionierung des sunnitischen Mainstreams erwirken sollten (Marrakesch-Declaration 2016 / Al-Azhar Declarationon Citizenship and Coexistence 2017). Über deren Ergebnis lässt sich natürlich streiten, aber man hätte es zumindest erwähnen sollen.

Was bis hierhin im Buch gefiel, war eine recht unaufgeregte Zusammenstellung von Fakten und Material. Leider sind diesem guten hinteren Teil des Buches 100 erste Seiten vorangestellt, die eine sehr eigenwillige Sichtweise auf die islamische Geschichte ab dem 7. Jahrhundert präsentieren und diese ebenfalls unter den in der Einleitung geäußerten Anspruch stellen: „Deshalb will diese Arbeit die von der religiösen Erzählung unterdrückte historische Wahrheit zur Geltung bringen.“ (10) Darunter versteht Ghadban zuerst eine Dekonstruktion der traditionellen orthodoxen Erzählung, nach welcher der Islam als „perfekte Religion“ einer Splendid Isolation der arabischen Wüste entsprang und in dieser ursprünglichen Reinheit erst in den späteren Jahren Muhammads mit den älteren monotheistischen Religionen in Kontakt und Auseinandersetzung geriet. Dass diese religiöse Erzählung sich tatsächlich mit den historischen Fakten nicht in Einklang bringen lässt, hat sich in der Archäologie und der frühislamischen Quellenkritik der letzten 25 Jahre erwiesen und gilt heute als State of the Art. Wer sich über diese lebhafte christliche und jüdische Präsenz auf der arabischen Halbinsel der vorislamischen Zeit und über die zahlreichen Interdependenzen mit dem entstehenden Islam informieren möchte, kann dies z.B. bereits über zwei ältere Themenhefte der Zeitschrift „Welt und Umwelt der Bibel“ (1/2005 und 1/2012) tun. Nun wäre es dringend notwendig gewesen, an dieser Stelle des Buches darauf hinzuweisen, dass diese zahlreichen archäologischen und literarischen Quellen seit Jahren an vielen Forschungsorten – z.B. Robert G. Hoyland (univ. of New York/USA), Angelika Neuwirth (corpus coranicum, FU Berlin), Gabriel S. Reynold (univ. of Notre Dame/USA) – sorgsam dokumentiert und ausgewertet werden und dass sich an die enge gegenseitige Verflochtenheit der religiösen Traditionen in der spätantiken orientalischen Welt recht unterschiedliche Deutungs- und Erklärungsmöglichkeiten anschließen. Selbst an der al-Azhar-Universität in Kairo wird nicht alles, was Angelika Neuwirth zur Sache sagt, in Bausch und Bogen abgelehnt. Warum Ghadban hier nicht differenziert den Forschungsstand berichtet, sondern hauptsächlich radikale Minderheiten-Interpretationen dieser bekannten Fakten anführt, wie sie z.B. in der aktuellen Forschungsgruppe INARAH gepflegt werden, erschließt sich mir nicht. Dadurch weicht er von der wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung zur Sache deutlich ab, ohne diese auch nur zu benennen. Dies schadet dem Anspruch seines Buches, die „historische Wahrheit zur Geltung“ bringen zu wollen, denn eigentlich reportiert er nur recht unkritisch entweder die ältere revisionistische Schule um J. Wainsborough, P. Crone oder Y. Nevo und andererseits die weit darüber hinaus schießenden neueren Thesen von Chr. Luxenberg, K.-H. Ohlig oder R. Popp – z.B. dass der frühe Islam in direkter einseitiger Abhängigkeit aus diversen Spielarten jüdischer, judenchristlicher, adoptionistischer oder sonstiger aramäisch-sprachiger christlicher Theologien der Spätantike entstanden sei (74-76 u.ö.) und dass noch die ersten Omajjaden-Kalife arianische Christen waren (94, 105 u.ö.), die erst in den Reformen des Kalifen Abdelmalik zu Beginn des 8. Jahrhunderts eine eigenständige Religion namens Islam entwickelten. Hier hätte Ghadban z.B. die sorgsame Untersuchung solch scheinbarer Zusammenhänge durch M. Khorchide / K. von Stosch auswerten können (Der andere Prophet: Jesus im Koran, Herder 2018), aber leider zieht er es vor, dazu nur eine hochspekulative Minderheitenmeinung anzuführen. Ein klassischer Fall von „confirmation bias“: Man hat eine Meinung oder Haltung und wählt dann jene Quellen, die sie bestätigen. Er tut dies zudem ohne Not, denn das ab Seite 128 durchaus sehr lesenswerte Buch wäre problemfrei ohne die vorgeschalteten Kapitel über die frühislamische und die hochmittelalterliche Zeit ausgekommen.

(Die auf Seite 145 beschriebene „Fülle der Übernahmen aus der israelitischen Tradition“, ist wohl eine Fehlbezeichnung. Gemeint sind wahrscheinlich die auf Seite 147 korrekt bezeichneten israeliyât – also um muslimische literarische Texte, die aus der jüdischen Tradition (meist Torah und Midrasch) entlehnt und überarbeitet wurden.)

Die unterdrückte Wahrheit über den Islam
Freiburg: Herder Verlag. 2021
319 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-451-38591-9

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