Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Robert Vorholt: Flucht in der Bibel

Zwölf Geschichten von Not und Gastfreundschaft

Die Erfahrung von Flucht und Migration ist ein Menschheitsthema von Anbeginn an – und doch hat sie im 21. Jahrhundert ein solch globales Ausmaß angenommen, dass niemand mehr davon unberührt bleiben kann. Vielmehr gilt es, die Problematik der Flucht als ein bedeutsames „Zeichen der Zeit“ auch in ihrer theologischen Dimension wahrzunehmen – im Lernen, Lehren und Handeln. Der Luzerner Neutestamentler Robert Vorholt nimmt uns diesbezüglich mit auf die Reise durch die Bibel als ein Buch, dessen Entstehungsprozess schon zutiefst durch Erfahrungen von Exil, Vertreibung und Wanderschaft geprägt ist. Er spannt den großen kanonischen Bogen von der urgeschichtlichen Vertreibung aus dem Paradies bis hin zur bleibenden Aufforderung zur Gastfreundschaft (vgl. Hebr 13,2) als einem unhintergehbaren Gebot der Menschlichkeit.

Und so begegnen seinen Leser/innen manche altbekannten biblischen Geschichten und Gestalten unter einem neuen, hochaktuellen Blickwinkel: Die Flutgeschichte der Genesis wird in den Kontext heutiger ökologischer Gefährdungen gestellt. Die Erzelternerzählungen setzen ein mit dem Aufbruch Abrahams und Saras in eine neue, unter Gottes Segensverheißung stehende Zukunft, die gleichwohl von Fluchtgeschichten und Fremdheitserfahrungen durchzogen wird. Ebenso wie in der Konstellation von Abraham, Sara und Hagar wird auch beim zeitweisen „Asylanten“ Jakob und in der so positiv endenden Josefgeschichte die Frage menschlicher Schuldverstrickung thematisiert. Die bis heute immer wieder vergegenwärtigte Exoduserzählung schildert ein ganzes Volk auf der Flucht – und die von Gott bewirkte Befreiung aus Sklaverei und Unterdrückung wird zur maßgeblichen Motivation für eine Ethik der Fremdenliebe. Als „Fremdengeschichte“ par excellence stellt das Buch Rut angesichts der Fragen von Identität und Integration in unruhigen politischen Zeiten provokativ eine Ausländerin vor, die zur Retterin Israels wird. Ebenso wie ihr Nachkomme, der große König David (der seinerseits mehrfach auf der Flucht ist), findet sie sich im Stammbaum Jesu wieder. In der matthäischen Kindheitsgeschichte, deren Entstehung nach Vorholt in einem urchristlichen Flüchtlingsmilieu um 70 n.Chr. in Syrien zu vermuten ist, wird ja selbst der Messias zum Flüchtlingskind, schon früh konfrontiert mit tödlicher Bedrohung und ägyptischem Exil. Die Erfahrung von Marginalisierung, Verfolgung und Flucht prägt schließlich auch die entstehenden christlichen Gemeinden. Beispielhaft führt der Autor hier den ersten Märtyrer Stephanus ebenso wie den mit Hilfe eines Engels aus dem Gefängnis befreiten Petrus und den „Bootsflüchtling“ Paulus auf dem Weg nach Rom an.

Der rote Faden des Menschen als „homo migrans“ durchzieht so die gesamte Bibel – und Vorholt versteht es, exegetische Grundlagen lebendig mit aktuellen Schlagwörtern (Obergrenze, Abschiebung, Aufenthaltsrecht, Ausländerquote usw.) zu korrelieren. Es tut dem Verständnis der Fluchterzählungen im engeren Sinne durchaus gut, dass der Autor sie in ihren weiteren biblischen Kontext einbettet. Die hilfreiche Einfügung biblischer Erzählpassagen ermöglicht es, die wichtigsten Texte im Original direkt vor Augen zu haben.

Man sollte sein Buch lesen als einen biblischen Aufruf zu Respekt, Offenheit und Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden und Geflüchteten. Mindestens ebenso sehr aber trifft der Autor eine Aussage zur biblischen Gottesvorstellung: Die zahlreichen Unheilserfahrungen, die in der Bibel ja durchaus nüchtern und realitätsnah zur Sprache kommen, sind für ihn letztlich aufgehoben in der Heilsgeschichte der Menschen mit einem Gott, der auf allen Wegen und durch alle Nöte hindurch mitgeht – und der sich dabei immer wieder als ein „Freund des Lebens“ erweist.

Kevelaer: Verlagsgemeinschaft topos plus. 2016
239 Seiten
17,95 €
ISBN 978-3-8367-0018-4

 

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