Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Theo Buck: Géricaults „Floss der Medusa" 1819 - 2019

Die angesichts von sinkenden Flüchtlingsbooten im Mittelmeer dramatische Aktualität von Géricaults Bildmotiv Floss der Medusa veranlasst Theo Buck, Professor für Neuere Deutsche Literatur, sich mit dem Künstler und dessen Bildmotiv zu befassen. Nicht nur die Entstehungsgeschichte des Werkes ist detailliert beschrieben, auch dessen Einfluss auf die Gegenwartskunst wird mit zahlreichen Abbildungen belegt. Die Wiederaufnahme von Géricaults Gemälde im aktuellen künstlerischen Dialog wirft die Frage auf: Was vermögen die „Schönen Künste" im ungeschönten Diskurs mit der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Realität? Diese Frage zieht sich leitmotivisch durch Bucks Schrift im Rückgriff auf Peter Weiss‘ Roman Die Ästhetik des Widerstands (1975).

Weit mehr noch als die Biographie des allzu früh verstorbenen Malers (1791-1824) und seiner kunsthistorischen Einordnung in die Übergangsphase zwischen Romantik und Realismus vermittelt Buck Einblick in die Psyche des Künstlers. Géricault wird vorgestellt als ein von Angst und Daseinsfragen getriebener Mensch, der auf gesellschaftspolitische Missstände sensibel reagierte. Als Seismograph seiner Zeit suchte er nach genuiner Ausdrucksform und einem passenden Bildsujet, das seinen erlebten historischen Lebenskontext spiegelte. Zurückgreifend auf den Bericht der beiden Überlebenden Savigny und Corréard über die Schiffskatastrophe der Medusa schien der Maler sein künstlerisches Lebensthema gefunden zu haben. Die Fregatte Medusa wurde 1816 nach Wiederherstellung der bourbonischen Monarchie von Ludwig XVIII. ausgesandt, um die nach Napoleons Desaster von Trafalgar verlorene Kolonie Senegal aus der Verwaltung Großbritanniens zurückzuerhalten. Das Schiff unter der unfähigen Leitung eines von der neuen royalistischen Regierung favorisierten Kommandeurs lief vierzig Seemeilen vor Afrika auf Grund; von 147 Schiffbrüchigen blieben nur fünfzehn am Leben. Das Dasein auf dem Floß wurde zum Menetekel einer in einer Extremsituation aller Menschlichkeit beraubten Gesellschaft; es herrschte das Gesetz des Stärkeren, wer verletzt oder zu schwach war, wurde über Bord geworfen. Da das Floß zwölf Tage auf dem Meer trieb, schreckten die Hungernden auch nicht vor Kannibalismus zurück.

Géricault verpflichtete sich bei der Bildgestaltung eines barbarischen Überlebenskampfes auf sinkendem Floß einem brutalen Realismus, der gänzlich mit der heroisierenden Historienmalerei im Dienste feudaler Herrschaft brach. Kunst, so sein Anspruch, sollte künftig nicht mehr politischen Propagandazwecken dienen. Das sinkende französische Schiff Medusa verstand er als Metapher für ein untergehendes Frankreich nach gescheiterter Revolution, nach überwunden geglaubter napoleonischer Ära und der wenig verheißungsvollen Restitution bourbonischer Monarchie. Buck lässt den Leser mitverfolgen, wie unter dem Postulat einer Ästhetik des Widerstandes Géricaults Kunstschaffen als persönliche Passion gelebt wurde. In einem eigens für das fünfunddreißig Quadratmeter große Gemälde angemieteten Atelier hatte sich der Maler beim Gestaltungsprozess den Existenzkampf der Schiffbrüchigen sprichwörtlich „einverleibt". Für Géricault gab es zwischen Künstler und Dargestelltem keine rettende Distanz, die wurde von ihm auch nicht für künftige Bildbetrachter vorgesehen. Allein durch die Großflächigkeit des Werks sollten Davorstehende „sehenden Auges" in die sich auf dem untergehenden Floß abspielende menschliche Tragödie hineingezogen werden – so als befänden sich die Betrachtenden selbst dahinvegetierend zwischen den von Hunger und Durst Ausgezehrten oder als bäumten sie sich ein letztes Mal mit den verzweifelt Hoffenden auf, um ein fern am Horizont erscheinendes Schiff herbeizuwinken. Buck präsentiert eine Auswahl von Abbildungen zu Vorskizzen, für die der Maler sowohl auf lebende wie auch aus der Anatomie stammende Modelle zurückgriff.

In dem Kapitel zur Rezeption von Géricaults Werk bis in die gegenwärtige Literatur und Bildende Kunst wird anschaulich dokumentiert, was gestalterische Wiederaufnahme und Neuinterpretation zu initiieren vermag. Spannend ist es, den von Buck aufgezeigten künstlerischen Spuren Géricaults in den abgebildeten zeitgenössischen Werken von Karl Rössing, John Connell, Martin Kippenberger, Jason deCaires Taylor und Banksy zu folgen. Die ausgesuchten Bildbeispiele von Gegenwartskünstlern belegen, wie im Dialog mit Géricaults Bildmotiv ästhetischer Widerstand realisiert werden kann. Dessen Nachfolge anzutreten bedeutet für Kunstschaffende schonungslose Selbstpreisgabe beim performativen Prozess des Gestaltens, Verwundbarkeit auszuhalten, um Opfer von Inhumanität unübersehbar sichtbar zu machen. Insofern ist das Buch von Theo Buck ein sehr lesenswertes Dokument über Kunst als widerständige Ausdrucksform.

Entstehung – Wirkung – Rezeption
Würzburg: Königshausen & Neumann Verlag. 2019
116 Seiten m. farb. Abb.
22,80 €
ISBN 978-3-8260-6732-7

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