Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt

 

Beim Versuch, die jeweilige Zeit in Gedanken und Begriffe zu fassen, gab es immer schon soziologische Favoriten und Moden; in jüngster Zeit etwa die Termini „Erlebnisgesellschaft“, „Risikogesellschaft“ oder „postmaterielles Zeitalter“. Zur Zeit hat die „Ambiguität“ bzw. die „Ambiguitätstoleranz“ Konjunktur – gerade für Thomas Bauer (geb. 1961), den Münsteraner Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, hochdekoriert 2012 mit dem „Leibniz-Preis“, der sich in seinem Reclam-Bändchen nicht nur zu Themen seines Spezialgebietes äußert, sondern auf gedrängtem Raum eine generelle Zeitanalyse im globalen Maßstab der westlichen und islamischen Welt versucht.

Zunächst präsentiert Bauer eine pessimistische Perspektive von Verfall und Dekadenz: Die moderne Welt entwickelt sich – materiell und mental – von einem vormodernen Reichtum an Vielfalt, Komplexität, Interpretationsspielräumen und Toleranz hin zur Einfalt, Vereinheitlichung, Monotonie und zwanghafter Uniformierung. Dieses Verschwinden von Mannigfaltigkeit macht Bauer in Natur und Kultur aus. In der Natur: Empirisch nachweisbarer Verlust im Bestand an Vögeln, Insekten und Pflanzen; folgenschweres Aussterben des Gen-Pools bei Wild- und Haustieren; uralte wertvolle Sorten an Obst und Gemüse fallen dem Einheitswahn der agrartechnischen Industrie zum Opfer. Der Mensch als homo horribilis sinkt noch tiefer zum homo suicidalis (8). Im Bereich der Kultur herrscht ein beklagenswerter Trend zur zwanghaften Gleichförmigkeit vor: Die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Sprachen wächst besorgniserregend – bedeutet diese sprachliche Reduktion doch ein Minus an Sozialkontakten, Kreativität und Welterschließung. Für Europa war und ist in religiöser Perspektive charakteristisch eine Zwangs-Homogenisierung durch das meistenteils intolerante Christentum, das unerwünschte Freigeister und Ketzer unerbittlich auslöscht(e), „und mit der Präsenz des Islams in Europa hat man rasch aufgeräumt, sobald man dazu militärisch in der Lage war“ (10). Das allgegenwärtige Narrativ einer liberalen multikulturellen Gesellschaft sei nur eine glattgeschliffene trügerische Scheinwelt – analog zur Scheinvielfalt unzähliger sinnfreier TV-Programme und zur Pseudo-Wahlfreiheit angesichts einer Überfülle von Joghurt- und Zahnpasta-Angeboten im Supermarktregal.

Ihre Ursache hat diese destruktive Tendenz in der Unfähigkeit der Zeitgenossen, mit dem Phänomen der Vielfalt, Mehrdeutigkeit, ja Widersprüchlichkeit zu leben. Bauer fordert nicht nur ein geduldiges Ertragen solcher Ambiguitäten, vielmehr sollen Menschen diese mehrdeutigen Vagheiten wertschätzen, ja sogar „lieben“ (79), wobei er einräumt, dass wir dazu tendieren, „unklare Situationen zu meiden“(15). Die mentale Ambiguitätsintoleranz wird durch die – vor allem den Westen – dominierende destruktive Gesellschaftsform der totalitären kapitalistischen Wirtschaftsweise (7, 12, 38, 40, 57, 68, 88, 93-95) verursacht und verfestigt. Diese setzt allein auf die eindeutige Zahl des Wertes von Waren und Menschen, die klar definierte Gewinnmarge und den singulären Marktfavoriten und ist unfähig, eine breite Palette von sexueller und ethnischer Diversität, von Vielfalt an Lebensentwürfen und Weltauslegungen als bereichernd zu schätzen. Vielmehr überfordert viele Menschen diese Komplexität und als enttäuschendes, ja gefährliches Resultat habe man zwei Tendenzen zu verzeichnen: auf der einen Seite einen (oft gewaltaffinen) Fundamentalismus, auf der anderen Seite eine weitverbreitete lethargische Gleichgültigkeit. Die erste Position will mit aller Gewalt an der einen reinen Orthodoxie festhalten und hat die Auslöschung der Anders- bzw. Ungläubigen auf die Agenda gesetzt; die zweite Position fühlt sich von der anstrengenden Polyvalenz überfordert und lässt diese interesselos an sich vorbeirauschen – zwei unterschiedliche Seiten ein und derselben Medaille namens Ambiguitätsintoleranz.

Positive Beispiele lieferte in vormoderner Vergangenheit vor allem der Islam: etwa die respektvolle Toleranz gegenüber christlicher Mission (21) oder die Wertschätzung von konkurrierenden Koranauslegungen in der klassischen islamischen Theologie. Deutungsdiversität hätte man geradezu als „Gnade“(39) empfunden; in vielen islamischen Gesellschaften war „gleichgeschlechtliche Liebe als selbstverständlich“ (80) angesehen. Zerstört wurde diese freie Ambiguitätskultur durch den europäischen Kolonialismus (42), der mit seiner gleisnerischen Schein-Überlegenheit an technischem und wirtschaftlichem Knowhow die arabische Welt zur Übernahme der westlichen Eindeutigkeits-Ideologie verleitete, ja zwang; zudem war der islamische Kosmos beständiges „Objekt militärischer Aggression von außen“ (40).

Bauers Überlegungen reizen zu kritischen Anmerkungen. Zunächst zum Thema Unheilsprophetie: Hilfreiche Warnungen können helfen, Gefahren bewusster zu machen. Der Verfasser jedoch erzeugt über weite Passagen mit dystopischem Framing Angst, die bekanntlich ein schlechter Ratgeber ist. Die Lebewesen unserer Erde sind „gefährdet“, „vom Aussterben bedroht“ (7), Vielfalt wird „vernichtet“(12); die Gesellschaft „leidet“ unter der „unheilvollen“ Ambiguitätsintoleranz (61), wodurch Menschen „ausgelöscht“ (10) werden; es herrscht „Enthumanisierung“ (91), der „Humanismus wird zerstört“ (93), es findet eine „Erosion der Demokratie“(84) statt. Ambiguität hingegen ist die „einzige Kraft, die das destruktive, genozidale Potential der Moderne“ zu entschärfen in der Lage ist (15).

Zweitens sind die Argumente und Belege nicht überzeugend. Einem wohlfeilen Anti-Amerikanismus geschuldet ist die Einschätzung, die Amerikaner für wenig ambiguitätstolerant zu halten, weil sie Männer und Frauen scharf nach tiefen und hohen Stimmen distinguieren, Mannschaftssportarten lieben, die kein Unentschieden kennen, und zu knallhartem Interventionismus in der Außenpolitik neigten; Bauer sieht einen „Zusammenhang zwischen Ambiguitätsfurcht und Kapitalismus“ (20). Die katholische Kirche, die er als „krank, gespalten und nach innen wie nach außen kommunikationsgestört“ (24) bezeichnet, wird am Exempel des II. Vatikanischen Konzils als zutiefst ambiguitätsfeindlich attackiert. Unvoreingenommene Beobachter indes loben die pfingstliche Öffnung zur Welt wie das aktualisierende „aggiornamento“, das Kollegialitäts-Prinzip, die Volkssprachlichkeit, die Aufwertung der Ortskirchen („Von der West- zur Weltkirche“) sowie die weltweite pastorale Reisetätigkeit der Päpste. Was Bauers Hochschätzung des vormodernen Islam in Sachen freie Koran-Exegese und freie Sexualität betrifft, kann dies hier nicht diskutiert werden; blickt man jedoch auf die Zentralfigur Mohammed – immerhin die perenne normsetzende Größe – so wirkte er nicht nur als Prophet und Gottgesandter, sondern auch als Kriegsherr, der mit weltanschaulichen und militärischen Gegnern wenig zimperlich, d.h. ambiguitätsintolerant, umsprang. Irritierend wirkt Bauers verteufelnde Haltung gegenüber Zukunftsforschungen zur „Künstlichen Intelligenz“, in der er nur ein „Schreckensszenario der Enthumanisierung“ (92) zu erkennen vermag.

Zu Bauers Zentralthese gibt es unzählige Gegenbeispiele, die die vorgetragene Wucht seiner Klage relativiert. So ist unsere Arbeitswelt längst nicht mehr von eintönigem Taylorismus geprägt, sondern zunehmend von Flexibilisierung und Individualisierung. Zudem charakterisiert unsere Lebenswelt nach dem Urteil namhafter Gegenwartssoziologen wie z.B. A. Reckwitz eine Abkehr von einer sozialen Logik des Allgemeinen hin zu einer Hervorbringung des möglichst Einzigartigen etwa in Lebensstilen des Essens, Reisens und der Körperlichkeit. Weiterhin: Die Gesetzgebung in Geschlechterangelegenheiten ist seit langem durch juristische Leitentscheidungen diversifiziert und liberalisiert, etwa im Scheidungs-, Abtreibungs- und Adoptionsrecht bis hin zu medienwirksamen Maßnahmen wie Fußgängerampeln mit Piktogrammen von Lesben/Schwulen, während für Bauer die „Kästchen“ LGBT noch viel zu wenig Räume für Intimität bereitstellen (81). Letztes Beispiel ist das „Gender-Sternchen“, welches in der Berliner Verwaltung als Pflicht im Schriftverkehr vorgeschrieben wurde.

Der Rezensent vermisst die selbstkritische Distanz, Skepsis oder Ironie – Grundhaltungen, die im Sinne intellektueller Redlichkeit und aus Fairness-Gründen gegenüber Andersdenkenden insbesondere in der Textgattung „Essay“ geboten wären. Es dominiert ein zelotischer, unleidlicher Ton, besonders gegenüber einer (angeblich) schweigenden, selbst-entfremdeten, homogenisierten Masse. „In Fernsehtalks werden Wissenschaftler ohnehin kaum noch eingeladen, weil sie die Sachen immer nur komplizierter machen und manchmal sogar schwierige Fremdwörter gebrauchen, die man erklären muss, damit alle alles sofort verstehen können.“ (89)

Resümee: Thomas Bauer hat einen Essay vorgelegt, der zum Widerspruch einlädt.

Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt
Stuttgart: Reclam Verlag. 2018
Was bedeutet das alles?
104 Seiten
6,00 €
ISBN 978-3-15-019492-8

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