Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Söding: Nächstenliebe

Kein Gebot wird so sehr mit Jesus und dem Neuen Testament verbunden wie das Gebot von der Nächstenliebe. Sie ist das Zentrum christlicher Ethik. Der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding hat diesem wichtigen Thema eine ausführliche Monographie gewidmet, die aus einer Vorlesung im Wintersemester 2013/14 hervorgegangen ist. In zehn Kapiteln verfolgt Söding das Phänomen der Nächstenliebe durch (fast) alle Schriften des Neuen Testaments hindurch. Lediglich der Hebräerbrief und die Johannesoffenbarung seien unergiebig, da diese Texte kein konkretes Interesse an Ethik aufwiesen.

Den Kapiteln, die die Nächstenliebe im Neuen Testament behandeln, sind fünf Kapitel vorangestellt, die zum Thema hinführen bzw. das Konzept der Nächstenliebe problematisieren (Kap. 1), das Wortfeld „Liebe“ bzw. die Liebe Gottes betrachten (Kap. 2 und 3) und das Liebesgebot in Lev 19,18 sowie seine Rezeption in der frühjüdischen Literatur (Testamente der Zwölf Patriarchen, Buch der Jubiläen, Qumranschriften) darstellen (Kap. 4 und 5). Besonders die Kapitel 4 und 5 verorten das Liebesgebot im historisch-kulturellen Kontext. Ein abschließendes Kapitel (Kap. 6) resümiert die Facetten des neutestamentlichen Liebesgebotes und bringt die gemachten Beobachtungen mit den einführenden Kapiteln und den dort aufgeworfenen Fragen ins Gespräch. Ferner sind dem Buch ein Verzeichnis grundlegender Literatur, Endnoten sowie Stellen-, Personen-, Namen- und Sachregister beigegeben, die eine schnelle Orientierung ermöglichen. Querverweise auf andere Kapitel und eine dort ausgeführte ausführlichere Beschreibung bestimmter Themen erleichtern den Gebrauch des Buches.

Kapitel 1 führt nicht nur in das Buch und sein Thema ein, sondern problematisiert das Gebot der Nächstenliebe, da es alles andere als unumstritten ist. Ist das Ideal der Nächstenliebe (noch gesteigert im Gebot der Feindesliebe) für den Menschen nicht unerreichbar? Ist es nicht unrealistisch und überfordernd? „Kann es eine Versöhnung geben, die nicht ungerecht ist? Wird nicht doch der Unterschied zwischen Täter und Opfer zunichtegemacht, wenn sich alle mit Tränen in den Augen in den Armen liegen?“ (26) Aufgrund dieser Anfragen muss auch die Ethik der Nächstenliebe „begründet werden und überzeugen können“ (11), gerade im Dialog mit der Philosophie oder der profanen Ethik.

Um den einzelnen Dimensionen der Nächstenliebe auf die Spur zu kommen, arbeitet Söding sieben Fragen heraus, die jeweils einen Aspekt des Liebesgebotes näher beleuchten: 1. Wer ist der Nächste?; 2. Was ist Nächstenliebe?; 3. Wie zeigt sich die Nächstenliebe?; 4. Was fordert die Nächstenliebe?; 5. Wer ist zur Nächstenliebe gerufen?; 6. Wie verhalten sich Nächstenliebe und Selbstliebe zueinander?; 7. Welchen Stellenwert hat die Nächstenliebe? Daneben reflektiert der Verfasser auch das Wortfeld „Liebe“ und bestimmt in der Diskussion der Termini Eros, Agape, Zuneigung und Freundschaft die Agape zum Schlüsselbegriff neutestamentlicher Liebesethik, der drei Punkte in sich vereine: die Liebe Gottes zu Israel, die Liebe des Volkes und einzelner Frommer zu Gott und die Nächstenliebe. Dieser Dreiklang, der sich schon in der Septuaginta finde, bleibe auch für das Neue Testament bedeutend. Denn Gott sieht alle Menschen als seine geliebten Nächsten an; deshalb sind die in der Liebe Gottes stehenden Menschen aufgefordert, die Mitmenschen als ihre Nächsten anzuschauen, da der liebende Blick Gottes auf sie selbst den Blick für den Anderen zu öffnen vermag. Der oben genannte Fragehorizont und das Konzept der Agape durchziehen die Kapitel des Buches und werden konsequent auf alle analysierten neutestamentlichen Bücher angewendet. Neben den exegetischen Erwägungen werden in jedem Kapitel biblische Einleitungsfragen angerissen, um schließlich das Thema der Nächstenliebe im Kontext der jeweiligen Schrift verorten zu können.

Thomas Söding ist eine Monographie gelungen, die sich nicht nur an Theologinnen und Theologen oder Religionslehrerinnen und Religionslehrer richtet, sondern an alle, die sich für das Thema Nächstenliebe interessieren und sich tiefergehend damit beschäftigen wollen. Denn das Buch problematisiert im besten Sinne den Terminus „Nächstenliebe“ und gibt über ihn kompetent und theologisch verantwortet auf Grundlage des neutestamentlichen Zeugnisses Auskunft.

 

Freiburg: Herder Verlag. 2015

423 Seiten

26,99 €

ISBN 978-3-451-31567-1

Zurück