Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Tim Crane: Die Bedeutung des Glaubens

„Gott – eine überholte kosmologische Hypothese“, „religiöse Überzeugungen – nicht nur falsch, sondern irrational“ oder „Religion – die Hauptursache für Leid und Gewalt in der Welt“ sind zentrale Thesen des Neuen Atheismus. Mit diesem Terminus bezeichnet der Verfasser religionskritische Autoren wie Richard Dawkins (*1941), Daniel Dennett (*1942), A.C. Grayling (*1949), Christopher Hitchens (1949-2011) oder Sam Harris (*1967) und stellt fest, dass deren Darlegungen wenig Zustimmung, aber vehemente Kritik gefunden haben. Sind religiöse Menschen tatsächlich so verblendet, dass sie Argumenten nicht zugänglich sind, oder ist vielleicht die ganze Argumentation schief? Letzteres ist die Überzeugung des britischen Philosophen und dezidierten Atheisten Tim Crane (*1962) und das liege vor allem daran, dass das vom Neuen Atheismus unterstellte Bild von Religion und Glaube nicht dem Selbstverständnis gläubiger Menschen gerecht werde. Aus dieser Einsicht zieht er die bereits in Titel und Untertitel formulierte zweifache Konsequenz, erstens „Religion aus der Sicht eines Atheisten“, d.h. methodisch unter Ausklammerung der Wahrheitsfrage aus einer Außenperspektive zu betrachten, und zweitens die „Bedeutung des Glaubens“ „vom Standpunkt derjenigen zu verstehen, die [diesen] praktizieren“ (54f); damit soll eine wichtige Grundlage für ein Gespräch mit sich religiös verstehenden Menschen gelegt werden. Terminologisch ist anzumerken, dass Crane die Ausdrücke Glauben, Religion und religiöser Standpunkt meist synonym gebraucht; wenn er auf eine konkrete Religion Bezug nimmt, ist zumeist vom Christentum, gelegentlich vom Judentum die Rede.

„Religion“, so Cranes etwas umständliche Definition, „ist ein systematischer und praktischer Versuch, den Menschen unternehmen, um Sinn und Bedeutung in der Welt und ihren Platz in dieser zu finden, und zwar in Form einer Beziehung zu etwas Transzendentem.“ (17) Mit dem „systematischen“ Aspekt meint der Philosoph die mit einer konkreten Religion verbundenen Vorstellungen und Lehren. Hinzu kommen zwei weitere Aspekte, die er als „religiösen Impuls“ (43-80) und „Identifikation“ (81-112) bezeichnet und denen seine besondere Aufmerksamkeit gilt.

Im Anschluss an William James versteht der Verfasser unter „religiösem Impuls“ erstens den Glauben an die Existenz einer unsichtbaren normativen Ordnung, die in den monotheistischen Religionen als „Gott“ bezeichnet wird, und zweitens die an die Gläubigen gerichtete Aufforderung, ein Leben gemäß dieser Ordnung bzw. nach dem Willen Gottes, der niemals „vollumfänglich begriffen werden [kann]“ (61), zu führen. Also haben das Leben und die Welt im Ganzen einen Sinn. Genau diese Überzeugung wird von Atheisten negiert: Es gibt keine transzendente Ordnung und es gibt keinen Gott. Folglich haben das Leben und die Welt im strengen Sinn auch keinen Sinn – was, so die Auffassung des Verfassers, anders wäre, wenn Gott existieren würde (52).

Auf diesem gedanklichen Hintergrund wird Cranes Kritik an einem zentralen Punkt des Neuen Atheismus plausibel. Ja, der Glaube an eine unsichtbare Ordnung bzw. an Gott enthält ein „kosmologisches Element“ (59) – aber Gott kann weder als eine kosmologische Superintelligenz noch als eine wissenschaftliche Hypothese angemessen verstanden werden. Wer religiösen Glauben wirklich verstehen will, der muss vielmehr an dem grundlegenden Unterschied zwischen der religiösen Suche nach Sinn und der wissenschaftlichen Suche nach Erkenntnis festhalten (75, 79).

Den religiösen Glauben charakterisiert nicht nur der „religiöse Impuls“, sondern auch die „Identifikation“ mit einer Gruppe: Zum Glauben gehören verbindliche Riten, die eine Verbindung zur Tradition und zur transzendenten Ordnung bzw. Gott herstellen. Und es ist „absolut zentral für religiösen Glauben“ (97), dass diese Riten in einer Gemeinschaft wie der Kirche vollzogen werden und solchermaßen religiöse Identität stiften. In diesem Kontext weist Crane die neuatheistische Kritik, religiöse Erziehung sei Kindesmissbrauch, zurück: Für gläubige wie ungläubige Menschen ist die Zugehörigkeit zu Gruppen wesentlich und die religiöse Erziehung von Kindern in der Familie „eine Einschränkung ihrer Freiheit, die analog zu all jenen Restriktionen ist, die es in familiären Beziehungen gibt“ (96).

Die Verbindung von „religiösem Impuls“ und „Identifikation“ wird durch die „Idee des Heiligen“ und der damit verbundenen Unterscheidung von sakral und profan gestiftet. Heilige Gebäude oder heilige Schriften gehören zur empirischen Welt und verweisen zugleich auf eine unsichtbare Ordnung; sie formen die Mitglieder einer Religion zu einer Einheit.

Vertreter des Neuen Atheismus halten religiöse Überzeugungen für irrational und darüber hinaus für gefährlich, weil zwischen Aberglauben und Gewalt ein enger Zusammenhang bestehe. Beidem widerspricht Crane. Lässt sich erstens je nachweisen, dass der Glaube an eine transzendente Wirklichkeit „niemals auf gutem Begründen oder guten Gründen beruhen [kann]“ (145)? Und ist zweitens der Optimismus, eine Welt ohne Religionen sei eine bessere Welt, nicht längst durch die Gewaltexzesse nicht-religiöser Systeme des 20. Jahrhundert widerlegt? Eine mögliche Ursache religiöser Gewalt sieht der Verfasser in der mit der „Identifikation“ einhergehenden „Aufteilung der Menschheit in exklusive Gruppen“ (97) – was aber keinen eindeutigen Zusammenhang von religiösen Glauben und Gewalt konstituiert, zumal die meisten religiösen Menschen Gewalt im Namen der Religion ablehnen.

Weil religiöse Toleranz zur Relativierung von Wahrheit und zu einem laschen Respekt führe, wird sie von manchen Neuatheisten abgelehnt. Nun ist in nächster Zukunft nicht zu erwarten, dass die Religion, zu der sich der weitaus größte Teil der Menschheit bekennt, oder der Säkularismus verschwinden werden – weshalb sich Crane für Toleranz stark macht. Unterschiedliche Weltsichten des friedlichen Zusammenlebens wegen zu tolerieren heißt ja nicht, dass die Wahrheit selbst relativ ist. Und eine religiöse Überzeugung zu tolerieren heißt nicht – so seine These – sie zu respektieren, sondern sie abzulehnen und zu missbilligen; Respekt verdient allein das moralische Subjekt, das sie äußert.

Tim Cranes „philosophische Untersuchung“ (141), die schon 2017 bei der Harvard University Press erschien, ist ein beachtenswerter Beitrag zu einer dringend erforderlichen Neuaufstellung des Atheismus. Sie liest sich über weite Strecken wie eine Verteidigung der „Bedeutung des Glaubens“ gegen seine neuatheistischen Verächter; in der Beschreibung des „religiösen Impulses“ und der „Identifikation“ kann man sich als Christ durchaus wiederfinden. Wichtig scheint dem Rezensenten der eher nebenbei geäußerte Gedanke, Religion lasse sich nicht durch die Reduktion auf andere Phänomene wegerklären (154). Genau das aber hat, nicht weiter erwähnt, die neuzeitliche Religionskritik im Gefolge von Ludwig Feuerbach praktiziert. Der Atheist Crane hingegen sieht im religiösen Glauben ein Phänomen sui generis!

Mit seinen Ausführungen hat er eine tragfähige Grundlage für einen fruchtbaren Dialog mit religiösen Positionen gelegt, jedoch nur den ersten Teil seiner Arbeit erledigt. Denn noch fehlt eine systematische Ausarbeitung der religionskritischen Einwände – zumal Crane behauptet, dass viele atheistischen Argumente „plausibel und manche unwiderleglich [seien]“ (41). Außerdem fehlt eine Begründung der eigenen atheistischen Position: Wenn er beteuert, dass die Welt ohne Sinn ist, macht er eine Aussage über die Wirklichkeit im Ganzen, also eine metaphysische Aussage. Und wenn er die gegenteilige religiöse Auffassung für falsch hält, wirft er die bislang ausgeklammerte Frage nach der Wahrheit der sich widersprechenden Überzeugungen auf. Dem lesens- und nachdenkenswerten Buch müsste also ein weiteres folgen!

Religion aus der Sicht eines Atheisten
Aus dem Englischen von Eva Gilmer
Berlin: Suhrkamp Verlag. 2019
188 Seiten
22,00 €
ISBN 987-3-518-58739-3

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