Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Tobias Frese: Bilder der Christophanie

Ambiguität gilt als ein Signum moderner Kunst – und die Behauptung, dass sie in spätantiken und frühmittelalterlichen Bildwerken keine Rolle gespielt hat, ist naheliegend. Überzeugende Gegenargumente liefert Tobias Frese in seiner überarbeiteten Habilitationsschrift. Darin analysiert er fünf zwischen 400 und 1.000 n.Chr. entstandene, besonders qualitätsvolle Bildwerke – drei Elfenbeinreliefs und zwei Buchmalereien – und arbeitet deren bewusst inszenierte Mehrdeutigkeit heraus. „Ambiguität“ definiert er als „antagonistisch-gleichzeitige Zweiwertigkeit“ (XVII).

Thematisch beschränkt sich der Kunsthistoriker – wie bereits der Titel anzeigt – auf „Bilder der Christophanie“; unter „Christophanie“ versteht er die Erscheinung des auferstandenen Jesus Christus; sie sei, so der Verfasser, eine „genuin körperliche Erfahrung“ (XIX). Die unvermutete Begegnung mit dem Auferstandenen verwirrt seine Anhänger, initiiert aber eine Vertiefung ihres Glaubens. Deshalb sind in den untersuchten Bildwerken die Themen „Christophanie“ und Umkehr und Bekehrung, also „Konversion“, aufs engste verknüpft. Auf diese beiden Leitbegriffe werde ich mich konzentrieren.

Das um 400 geschnitzte sog. Trivulzio-Elfenbein zeigt vor dem geöffneten Tor eines Mausoleums auf der rechten Seite zwei Frauen, ihnen gegenüber auf der linken Seite eine große sitzende männliche Gestalt mit Nimbus; seine Rechte hat er zur Rede erhoben, in der Linken hält er eine Schriftrolle (Mt 28,1-10). Wer ist diese Person? In ihr werden die Akteure zweier Szenen überblendet: zum einen der die beiden Marien belehrende Engel (V 2-7), zum anderen der ihnen auf dem Rückweg begegnende auferweckte Jesus (V 9 f). Die Ambiguität der Darstellung besteht also darin, in dem sitzenden Mann wie bei einer Kippfigur eine Engel- und eine Christuserscheinung zu erkennen. Das Thema der Konversion wird an den Körperhaltungen der Marien sichtbar: Die nach vorn gebeugte Maria mit offenen Armen steht für die Irritation, die auf die Kniee gefallene für die neu gewonnene Glaubenseinsicht (Konversion).

Einer der vier Elfenbeintafeln des um 420/30 gefertigten Londoner Passionskästchens präsentiert eine ganz ungewöhnliche Szenerie. Das Simultanbild kombiniert drei Episoden mit je zwei Personen: den seine Hände in Unschuld waschenden Pilatus mit einem Helfer, den davonschreitenden Jesus mit dem als Siegeszeichen geschulterten Kreuz und einen römischen Polizisten sowie Petrus mit Magd und Hahn. Nun finden die Verleugnung Petri und die Kreuztragung Jesu zu unterschiedlichen Zeiten statt. Warum aber ist die in der frühchristlichen Kunst seltene Darstellung der Kreuztragung Jesu – „einzigartig in der christlichen Kunst“ – mit der Verleugnung des Petrus zu einer kompositorischen Einheit „verschmolzen“ (61)? Der Blick auf andere Reliefs des Passionskästchens machen es plausibel, im kreuztragenden Jesus bereits den auferstandenen Christus zu sehen. Die Christophanie führt zur Konversion: Bloßgestellt durch die Begegnung mit Christus wandelt sich Petrus vom hochmütigen Verleugner zum reuigen Bekenner (Konversion). Erst der Perspektivenwechsel, also Ambiguität, sieht in der unmöglichen Begegnung von verleugnendem Petrus und kreuztragendem Jesus keinen ikonografischen Fehler, sondern erkennt darin eine bewusste Inszenierung in katechetischer Absicht.

Eine Miniatur aus der berühmten, im 6. Jahrhundert entstandenen Wiener Genesis zeigt den Jakobs-Kampf (Gen 32,23-33). Bei der spektakulären Ringkampf- und Segnungsszene handelt es sich um ein Kippbild, das über einen „gemeinsamen Fußpunkt“ (112) zwei Männer verklammert: einen mit Jakob kämpfenden und einen Jakob segnenden Mann. Wieder geht es um Ambiguität, nämlich um zwei konträre Perspektiven auf den einen Gottesmann. Ihn haben griechische Kirchenväter als eine Präfiguration Christi gedeutet. Demnach erlebt Jakob eine Christophanie, die seine Konversion anstößt: Die existentielle Krise, die er während des nächtlichen Kampfs durchleidet, verwandelt ihn: Am Morgen wird Jakob gesegnet und zu Israel.

In dem um 800 datierten Book of Kells findet sich eine uneindeutige Buchmalerei: Unter einem Portal umgreifen zwei Männer von links und rechts die Arme Jesu. Mit Bezug auf Mt 26,50b wurde die Szene als Gefangennahme Jesu gedeutet, obwohl der ikonografisch zentrale Judaskuss fehlt. Diese Interpretation ergänzt Frese um zusätzliche Perspektiven. Eine weitere ergibt sich aus dem Kontext, denn neben dem Bild steht der Text der Einsetzungsworte (Mt 26,25-29): Die zum Gebet erhobenen Arme Jesu veranschaulichen „die liturgische Bedeutung des Einsetzungsberichts“ (157). Der ein Schrägkreuz bildende Jesus zeigt mit den Händen auf die beiden Kreuze am Tor – und verweist damit auf seine Passion. Aus typologischer Sicht evozieren die beiden Löwenköpfe im Scheitel des Tympanons den betenden Daniel zwischen zwei Löwen; diese Szene wurde als Präfiguration der Auferstehung Jesu gedeutet. Einen Hinweis auf die Himmelfahrt identifiziert Frese in dem in der Portalinschrift erwähnten Ölberg: Der Ölberg ist nicht nur Ort des Verrats, sondern auch der Himmelfahrt. Die Buchmalerei, so der Verfasser, lädt zu „assoziativem Sehen ein“ (166): Jesus ist nicht nur der Gefangengenommene, sondern darüber hinaus der Orant, der Gekreuzigte, der Auferstandene und der in den Himmel Auffahrende. Zum einen ist das Tor Ort der Christophanie, zum anderen ein starkes Symbol des Übergangs: Die Jünger, die Jesus im Stich lassen, wandeln sich zu seinen begeisterten Zeugen (Konversion).

Das Berliner Moses-Thomas-Diptychon, eine Elfenbeinschnitzerei vom Ende des 10. Jahrhunderts, bringt Moses und Thomas sowie Moses und Jesus in typologische Beziehungen. Die beiden hochrechteckigen Tafeln mit floral verziertem Rahmen und den drei langgestreckten Personen sind ähnlich gestaltet. Auf der linken Tafel nimmt Moses aus der Hand Gottes die beiden Gesetzestafeln entgegen; auf der vorderen steht „M/YO/SES“, auf der hinteren „FA“. Sie zeigt ihn im Halbprofil mit beiden Füßen auf einem Miniaturberg. Flankiert wird das Geschehen von zwei gedrehten Säulen, auf denen ein dreieckiger Giebel aufruht. Auf der rechten Thomas-Tafel steht Jesus erhöht auf einem gebäudeartigen Podest. Mit der Linken hat er sein Gewand geöffnet, so dass die Seitenwunde sichtbar ist; seine rechte Hand hat er um den Kopf gelegt und streift mit den Fingern die langen Haare nach hinten, so dass das Ohr sichtbar wird. Thomas in Rückenansicht streckt sich nach oben, hat mit der linken Hand das Gewand Jesu weggezogen und den Zeigefinger der anderen Hand in die Seitenwunde gesteckt. Oben umschließt ein Halbbogen das Geschehen; im linken Zwickel stehen die Worte „INFER /DIGI/TV/M“ (Lege deinen Finger), im rechten „TVVM /HVC /ET N/OLI“ (hierhin und sei nicht), beides Zitate aus Joh 20,27.

Die beiden Buchstaben „FA“ lassen sich mit Bezug auf den Hebräerbrief Kap. 3,1-6 entschlüsseln: Dort wird Moses als der treue „famulus“ (Diener) Gottes und – ihn überbietend – Jesus als der treue „filius“ Gottes bezeichnet. Zwischen Moses und Jesus besteht folglich kein Gegensatzverhältnis wie etwa Gesetz versus Gnade, sondern ein typologisches „Erfüllungsverhältnis“ (201). – Der Aufforderung Jesu an Thomas, seine Seite zu berühren, folgt die Zurechtweisung „… sei nicht ungläubig gläubig …“ (aus dem zitierten Vers Joh 20,27) sowie die Preisung der Nichtsehenden: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (V 29). Anders als auf sonstigen Bildern des ungläubigen Thomas streckt Jesus seine Hand nicht aus, sondern macht sein Ohr frei – ein „sprechendes“ Bild für den untrennbaren Zusammenhang von Hören und Glauben. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich eine Aufwertung von Moses, des Famulus Gottes, gegenüber Thomas, dem Jünger Jesu: Moses konnte Gott nur hören, nicht sehen. Thomas‘ Begegnung mit dem Auferstandenen (Christophanie) setzt einen Prozess hin zu seinem Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott“ (V 28) in Gang (Konversion).

Diese interessanten Ausführungen reizen den Rezensenten, noch eine weitere, dezidiert theologische Interpretation vorzuschlagen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass nicht nur das Haupt des auferstandenen Jesus Christus, sondern auch die Hand Gottes von einem Kreuznimbus umgeben ist. Auf beiden Tafeln ist offensichtlich der eine Gott auf unterschiedliche Weise gegenwärtig: Auf der Moses-Tafel teilt sich der unsichtbare Gott im Medium Schrift, repräsentiert durch die Gesetzestafeln, mit; und das Gebäude, das den Berg Sinai als Ort der Offenbarung umschließt, verweist auf den Jerusalemer Tempel. Die Thomas-Tafel hingegen zeigt den unsichtbaren Gott, der sich selbst im Medium Mensch, in Jesus von Nazareth, offenbart hat; er ist das Bild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). Das kleine Gebäude, auf dem der Auferstandene steht, könnte auf den Tempel, in dem er gelehrt hat, anspielen, und der runde Bogen, unter dem er und Thomas stehen, auf die Kirche verweisen. Entscheidend jedoch ist: Visualisiert wird die Selbstoffenbarung Gottes im Medium Mensch – und ein starkes Bild für die Inkarnation, die Fleischwerdung Gottes (Joh 1,14), ist der in die Wunde des auferstandenen Jesus gelegte Finger.

An diesen Gedanken möchte ich eine kritische Anmerkung anschließen: Tobias Frese liest die Evangelien als „Berichte“, wundert sich, dass der Auferstehungsvorgang nicht beschrieben wird, und versteht die Erzählungen über Erscheinungen als empirische Geschehnisse. Die Auferweckung als Tat Gottes ist aber kein Ereignis in Raum und Zeit und der Leib des auferstandenen Jesus kein reanimierter Leichnam; Paulus spricht andeutungsweise von einem „geistlichen Leib“ (1 Kor 15,44). Die monierten Formulierungen verwundern angesichts der theologischen Kenntnisse des Verfassers über die Kirchenväter. Ausgezeichnet freilich sind seine subtilen Beschreibungen und die hochinteressanten, bisweilen etwas gewagten Interpretationen. Das Buch ist ausgezeichnet bebildert, so dass sich die ikonografischen Argumentationen gut nachvollziehen lassen. Und vor allem: Der Verfasser hat exemplarisch gezeigt, dass christliche Kunstwerke schon vor 1.000 nicht auf eine einzige Auslegung festgelegt waren, sondern ihnen – wie modernen offenen Kunstwerken – Ambiguität eigen ist.

Ambiguität, Liminalität und Konversion
Paderborn: Brill Fink 2022
XXII +248 Seiten m. s-w u. farb. Abb.
59,00 €
ISBN: 978-3-7705-6626-6

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