Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Ulrich Riegel: Das Wunderverständnis von Kindern und Jugendlichen

Neutestamentliche Wundererzählungen sind für ein theologisches Verständnis der Botschaft und Person Jesu Christi von fundamentaler Bedeutung und als solche aus dem Religionsunterricht aller Altersstufen nicht wegzudenken. Unabdingbar für einen gewinnbringenden unterrichtlichen Zugang ist dabei die Kenntnis diesbezüglicher „Präkonzepte“ der Schülerinnen und Schüler. Genau hier setzt die empirische Studie des Siegener Religionspädagogen Ulrich Riegel an und bietet in einer Verbindung von qualitativen und quantitativen Verfahren Einsichten in das aktuelle Wunderverständnis von Kindern und Jugendlichen vor dem Hintergrund fortschreitender kultureller Säkularisierung. Als Grundlage der Untersuchung dienen die Produkte von 2723 Schülern der Jahrgangsstufen 1 bis 12 aus NRW und Rheinland-Pfalz, die von Studierenden des Fachs Katholische Religionslehre an der Universität Siegen v.a. im Rahmen der Studienprojekte ihres Praxissemesters gesammelt wurden.

In Kapitel 1 erschließt der Autor den Begriff des Wunders einerseits im Kontext antiker biblischer Tradition mit ihren vielfältigen hermeneutischen Zugängen und andererseits im Kontext modernen Denkens mit all seinen Ambivalenzen zwischen naturwissenschaftlichem Weltbild, Populärkultur (Harry Potter, virtuelle Spiele etc.) und Alltagsdeutungen. Wundererzählungen seien sowohl in der biblischen Tradition wie in der Gegenwart Ausdruck einer mythischen Denkfigur und als solche Deutungsangebote.

In der kritischen Auseinandersetzung mit geläufigen entwicklungspsychologischen Theorien religiöser Entwicklung (Kapitel 2) unterscheidet Riegel zwischen zwei Formen der mythischen Denkfigur: dem wörtlichen und dem symbolischen mythischen Denken. Letzteres ist Voraussetzung dafür, dass auch mythisches Denken im Rahmen aufgeklärter Vernunft stattfinden kann und sich nicht zwingend ein Prozess der Entmythologisierung vollziehen muss. Die Durchsicht bisheriger Studien zum Wunderverständnis von Heranwachsenden (v.a. aus der Zeit um die Jahrtausendwende) lässt neben der mythischen als weitere Denkfigur die naturphilosophische erkennen, die ebenso zu verschiedenen Ergebnissen hinsichtlich der Bewertung von Wundern führen kann.

Kapitel 3 gibt auf der Grundlage der sich aus den bisherigen Erkenntnissen ergebenden Desiderata detaillierte Auskunft über Fragestellungen, Konzeption, Kontext und Methodik der Studie. Die Daten beruhen schwerpunktmäßig auf schriftlichen Schüleräußerungen und -begründungen bezüglich des Verhaltens Jesu im Anschluss an eine Impulserzählung, die sich an eine von drei möglichen Wundertypen anlehnt.

Bei der ausführlichen empirischen Analyse der Schüleräußerungen (Kapitel 4) kristallisieren sich vier Verständnisse von Wundererzählungen heraus (biblisch-affin, phantastisch, naturphilosophisch grundiertes Verständnis und naturphilosophisch inspirierte Wunderkritik), deren Konkretisierungen in qualitativer wie auch quantitativer Hinsicht differenziert beschrieben werden. Von den zusätzlich hinzugezogenen Prädikatoren zeigen religiöse Selbsteinschätzung, kognitive Leistungsfähigkeit und Schulstufe den größten Effekt.

Die Auswertung in Kapitel 5 bietet eine Diskussion des empirischen Befunds und zieht erste religionsdidaktische Konsequenzen. Offen benennt Riegel die Stärken wie die Grenzen des gewählten Forschungssettings. So erlaubt der in diesem Themensektor erstmalige Einsatz quantitativer Verfahren statistisch belastbare Einsichten. Im Vergleich mit den älteren Studien stellt das phantastische Wunderverständnis ein neues, säkulares Verständniskonzept mit Transzendenzdimension dar, das es bei der unterrichtlichen Umsetzung zu beachten gilt.

Gleichzeitig verbleiben offene Fragen und Ambivalenzen. Wie z.B. sind die nicht wenigen Schüleräußerungen zu deuten, die keiner der Kategorien zugeordnet werden können? Und wie lässt sich die Dominanz des bibel-affinen Wunderverständnisses verstehen – v.a. als Reflex auf die kulturell immer noch verankerten christlichen Topoi und den Lernort Religionsunterricht? Welche Gründe lassen sich anführen, dass anders als in den älteren Studien keine symbolischen Lesarten von Wundern festzustellen waren? Der Autor macht hier selbst Deutungsangebote, verweist aber auch auf sich ergebende Forschungsdesiderata. Ebenso skizziert er im Anschluss an aktuelle konzeptuelle Zugänge zu Wundererzählungen (performativ, [de-]konstruktivistisch, intertextuell) erste Perspektiven für den Religionsunterricht. Die religionsdidaktische Arbeit im engeren Sinne beginnt dort, wo Riegels gründliche und lesenswerte Studie endet.

Theoretische Klärungen – empirische Befunde – didaktische Konsequenzen
Religionspädagogik innovativ 41
Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag. 2021
190 Seiten m. Schemata
39,00 €
ISBN 978-3-17-041046-6

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