Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Ulrich Ruh: Edward Schillebeeckx

Es ist eine alte, zugleich bedrückende Erfahrung, dass nach dem Tod eines Gelehrten, mag er zu Lebzeiten noch so einflussreich und gar berühmt gewesen sein, eine Zeit der Stille eintritt. Es ist, als ob die Nachwelt durchatmen müsste, Zeit bräuchte für neue Ansätze. Das gilt ohne Zweifel auch für den flämisch-niederländischen Systematiker Edward Schillebeeckx (1914-2009). Wann hat man zum letzten Mal seine Spur wahrnehmen können? Dabei war der Dominikaner, der auch die internationale theologische Zeitschrift „Concilium“ mitbegründete (sie erscheint seit 1965), seinerzeit ein „Name“. Diejenigen, die in den 1970er und 1980er Jahren studierten, kamen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit seinem Opus magnum „Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden“ (1974) in Kontakt, auch wenn das Werk in Deutschland niemals so geläufig wurde wie Walters Kaspers „Jesus der Christus“ oder Hans Küngs „Christ sein“ (die alle im selben Jahr erschienen sind!). Immerhin: Das Exemplar, das der Rezensent in seinem Bücherregal findet, erlebte 1980 bereits die siebte Auflage, beinhaltet zudem zahllose Unterstreichungen, Ausrufezeichen und Bemerkungen. Die studentische Lektüre war offensichtlich höchst anregend!

Nun legt Ulrich Ruh, der 1991 bis 2014 die „Herder Korrespondenz“ leitete, eine gediegene Einführung in Schillebeeckx‘ Leben und Denken vor. Der Leser erfährt zunächst Erhellendes zu dem verwirrenden Komplex „Flamen – Wallonen“, den zwei Bevölkerungsgruppen Belgiens, die immer wieder in uns anachronistisch anmutende sprachliche und kulturelle Querelen geraten. Schillebeeckx war Flame, stammte aus dem niederländisch sprechenden Teil Belgiens, verbrachte jedoch den wesentlichen Teil seiner Laufbahn in Nimwegen, wo er zwischen 1958 und 1984 an der Katholischen Universität den Lehrstuhl für Dogmatik innehatte. Als er 1952 promoviert wurde, thematisierte seine so umfangreiche wie – u. a. von Karl Rahner – gerühmte Dissertation die Sakramentenlehre. Im Nachhinein erscheint das kennzeichnend für diesen Theologen, geht es in den Sakramenten doch um die Vergegenwärtigung des Heils, um die Vermittlung des Göttlichen an die Weltlichen, und dieser brüchig gewordene Prozess beschäftigte Schillebeeckx zeitlebens. „Bei aller kirchenbezogenen Sakramentalität“, resümiert Ruh den Ansatz des Dominikanertheologen, „gehe es im Kern um die Begegnung mit Gott selber in und durch die sakramentale Begegnung mit Christus in seiner Kirche.“ Die Positionen freilich, die Schillebeeckx in den nächsten Jahrzehnten einnahm, schienen das „Heilige Offizium“ (später: Kongregation für die Glaubenslehre) mächtig zu provozieren. Drei römische Lehrverfahren hatte er bis in die 1980er Jahre hinein zu überstehen. Sie endeten alle ohne förmliche Sanktionen. Auffällig aber ist, dass sie wohl alle wesentlichen Themen betrafen, die Schillebeeckx anpackte: die Säkularisierung genauso wie die Gegenwart Christi in der Eucharistie, das Wesen des Ordenslebens genauso wie die bedrängenden Fragen der Amtstheologie. Und auch seine epochale Jesus-Studie zog den Argwohn der Glaubenskongregation auf sich. Die „Anfragen“ reichten hier vom hermeneutischen Ansatz über den historischen Jesus bis zur Trinität. Dabei war Schillebeeckx alles andere als ein Provokateur. Auf die biographische Frage nach der Entscheidung für den Orden des heiligen Dominikus verwies er „auf das Gleichgewicht zwischen dem Religiösen einerseits und dem Humanen und dem In-der-Welt-Sein andererseits“. Und auch dieses Gleichgewicht, die andauernde Suche nach der Balance zwischen dem maßgeblichen religiösen Erbe und der zeitgemäßen Aneignung, mag als kennzeichnend für den gelehrten Ordensmann gelten. Sein Denken war dialektisch, aber keinesfalls dualistisch; es bedachte die Spannungen und Bruchstellen einer Fragestellung, mied jedoch die extremen Positionen, die in der Regel von der Simplifikation leben. In dem umfangreichen „Jesus“-Buch lässt sich dies Seite um Seite studieren. „Biblizismus ist unbiblisch“, heißt es dort in den hermeneutischen Vorbemerkungen. Dieser scheinbar schlichte Satz bietet eine Quintessenz der Glaubens- und auch Dogmengeschichte: „Die ‚Erinnerungen an Jesus‘ bleiben das leitende Prinzip, aber sie werden befruchtet durch die Fragen der Gegenwart.“

Ulrich Ruh stellt das Leben Edward Schillebeeckx‘, das sich praktisch über das gesamte 20. Jahrhundert erstreckte, auf eine informative Weise vor. Zugleich erinnert er uns kenntnisreich an das Denken und das umfangreiche Werk des Systematikers, dem die menschliche Existenzerfahrung ein vorzüglicher „locus theologicus“ war, ein „Fundort für religiöse Lebensüberzeugung“. Nach der Lektüre des Bandes ist der Leser bestens gerüstet für die (nochmalige) Lektüre von „Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden“.

Leben und Denken
Freiburg: Herder Verlag. 2019
190 Seiten
26,00 €
ISBN 978-3-451-37815-7

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