Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Vittorio Hösle: Gott als Vernunft

Der vorliegende Sammelband enthält sehr unterschiedliche Beiträge zum Verhältnis von Glaube und Vernunft. Ihnen ist die Überzeugung gemeinsam, dass der Glaube an Gott nicht einen fideistischen Sprung voraussetzt, sondern in einem tiefen Sinne vernünftig ist. Denn jeder Vernunftgebrauch bezieht sich auf grundlegende Annahmen, die ihm ermöglichend vorausliegen, über die er sich aber in der Regel keine Rechenschaft ablegt. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht.

Dass wir eine Hochschule traditionell nicht als „Multiversität“, sondern als Universität bezeichnen, macht schon sprachlich deutlich, wie sehr der Wissenschaftsprozess von der Idee geleitet ist, dass über all seine inneren Spezialisierungs- und Differenzierungsgrade hinweg die Fülle menschlichen Wissens sich zu einer letzten Einheit fügt. Diese Annahme setzt ein grundlegendes Vertrauen in die Wirklichkeit voraus, das an sich selber nicht überprüfbar ist, jeglichen Forschungsprozess aber durch „trial and error“ hindurch lebendig hält. Dieses Vertrauen tritt in seinen Implikationen noch deutlicher hervor, wenn man das Feld einer empirisch beschreibenden Wissenschaft verlässt und das Verhältnis von moralischer Verpflichtung und empirischer Welt betrachtet. Denn dass die moralisch gute Absicht einerseits die gegebene Welt transformieren will, andererseits aber sich derjenigen Mittel bedienen muss, welche die gegebene Welt ihr bereitstellt, bezeugt einen „Ausgang vom Bösen“, von dem in besonderer Weise Kant wusste und den eine praktische Vernunft nicht abzuschütteln vermag. Um es an einem aktuellen Beispiel zu verdeutlichen, das zwar nicht vom Autor stammt, aber diesen Widerspruch mit sich selbst veranschaulichen dürfte, in den die praktische Vernunft in ihrem Vollzug zwangsläufig gerät: Greta Thunberg konnte nur deshalb durch ihre emissionsfreie Fahrt auf einer Segelyacht zum UN-Gipfel ein weltweites Signal für den Weg in eine bessere Welt setzen, weil unzählige Journalisten deren Ankunft und Abreise ganz und gar nicht emissionsfrei begleiteten. Dass wir dort, wo unsere Vernunft in der Umsetzung ihrer besten moralischen Absichten derjenigen Welt verhaftet bleibt, die sie doch überwinden will, wirft die Frage auf, ob sie nicht „verhext“ ist und angeborenen Täuschungen unterliegt, deren Realisierung einfach nicht vorgesehen ist. Vor der daraus resultierenden selbstzerstörerischen Konsequenz kann sich die Vernunft nur dadurch retten, dass sie eine letzte Einheit von empirischer und moralischer Weltordnung annimmt. Diese Einheit ist jedoch nur durch einen Gott garantiert, der als Möglichkeitsgrund nicht nur hinter der empirischen, sondern auch der moralischen Weltordnung steht.

Das Postulat eines solchen Gottes war die Lösung, die Kant für das beschriebene Problem formulierte und die der Autor des vorliegenden Bandes auch als solche übernimmt. Er macht darüber hinaus jedoch darauf aufmerksam, dass Gott nicht nur ein möglicherweise ohnmächtiges Postulat ist, mit der die Vernunft sich vor Selbstzerstörung rettet, sondern dass seine Spur in das menschliche Selbstbewusstsein eingegraben ist. In Anlehnung an Descartes gelangt der Autor nämlich zu einer subjekttheoretischen Reformulierung von Anselms Gottesbegriff, die feststellt: Wenn das Ich seine eigenen Bewusstseinsvollzüge objektiviert, generiert es sich immer wieder neu als ein Subjekt, das als Möglichkeitsgrund solcher Objektivation sich eben dieser Objektivation entzieht. Damit ist einerseits in unserem Ich-Bewusstsein eine Spur des Absoluten angelegt. Andererseits befähigt dieses Absolute uns dazu, in ein Verhältnis der Distanz und der Objektivation zu derjenigen empirischen Welt zu treten, der wir gleichwohl nicht entrinnen können. Von hier aus weist der Autor auch den performativen Widerspruch nach, in die sich ein neurobiologischer Determinismus verfängt, der doch um sich weiß und sogar mit Argumenten libertäre Geister von sich zu überzeugen versucht.

Dass „die“ Vernunft in keinem Menschen vollständig realisiert ist und ihr Gebrauch immer einem Zeitindex unterworfen ist, befähigt sie dazu, nun auch mit religiösen Traditionen in ein Gespräch zu kommen, um diejenige Spur des Absoluten zu verfolgen, die in ihr angelegt ist. Damit wird vor allem die christlich-theologische Tradition zum Gesprächspartner, weil in ihr sich der Glaube an Gott von Anfang an der Vernunft geöffnet hat. Denn in einem solchen Gespräch vermögen Vernunft und Glaube einander wechselseitig über ihre jeweilige Realisationsgestalt hinauszuführen.

Zu bedauern ist, dass diese wertvollen Gedanken zwar den roten Faden markieren, der sich durch die hier veröffentlichten und thematisch sehr spezialisierten Einzelbeiträge zieht, sie sich dem Leser aber nur in einer aufwendigen und geduldigen Lektüre erschließen.

Berlin: J.B. Metzler Verlag. 2021
318 Seiten
64,99 €
ISBN 978-3-662-62682-5

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