Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Volker Demuth: Fleisch

„Kein Krimi mehr ohne Pathologie, kein Mordopfer ohne Close-up auf die Schuss-, Stich oder Schlagwunde. Das tägliche TV-Massaker führt uns massenweise offenes Menschenfleisch vor. Niemand, ob Kind oder Erwachsener, verfügt über den kulturellen Abstand, sich seiner Allgegenwart zu entziehen.“ (14) Volker Demuths enorm kenntnisreiche Kulturgeschichte des Fleisches sollte jeder, der Theologie treibt, gelesen haben, steht doch die Inkarnation, die Fleischwerdung des göttlichen Logos in Jesus Christus, im Zentrum christlicher Theologie. Und die „Theologie des Fleischs“ steht demnach auch am Anfang von Demuths Überlegungen. So eröffnet er in seiner assoziativen „Fleischbeschau“ geradezu ein Panoptikum, das sich von der „Ästhetik der Wunde“ über „Fleischlose Träume und Kannibalismus“ bis hin zur Überwindung des Fleisches erstreckt. Seine beziehungs- und anspielungsreiche und dabei stets intellektuell-unterhaltsame Untersuchung ringt über 300 Seiten mit der Tatsache, dass wir Menschen sterbliche Wesen sind, dass wir einen Körper haben, eine materielle Basis unserer Existenz, die jeden Tag gefährdet ist und unserem Zugriff weitgehend entzogen bleibt. Der Souverän unseres Körpers sind wir nicht, das spüren wir vor allem im Alter und unausweichlich am Lebensende. Die Tradition der Kirche weiß das allzu gut. Lex orandi, lex credendi: Die Kirche betet so, wie sie glaubt und glaubt so, wie sie betet (vgl. KKK 1124), lautet die DNA des kirchlichen Lebens. Und so ist es auch liturgisch konsequent, dass jedem Einzelnen vom Priester am Aschermittwoch mit dem Aschenkreuz ein „Memento Mori“ mit den Worten „Bedenke Mensch, dass du Staub bist, und zum Staub zurückkehrst“ (Gen 3,19) auf die Stirn gezeichnet wird.

Unser Körper ist nicht alles, aber ohne unseren Körper ist alles nichts. Er ist die Basis unserer Leiblichkeit, die für die Ganzheitlichkeit unseres Lebens steht. Unser Leib schenkt uns Leben und lässt uns resonanzfähig für unsere Umwelt sein, er ermöglicht uns einen vorbegrifflichen Weltzugang und ein individuelles Weltverhältnis und ist die natürliche Voraussetzung, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Der Leib besitzt somit eine personal-relationale und kommunikative Dimension. So stellte und stellt die bildliche Darstellung von Körperlichkeit – in ihrer Schönheit wie in ihrem Geschundensein – für das Christentum nie ein Problem dar, da Gott unser Fleisch durch seine Inkarnation geheiligt hat und unser sterblicher Körper in der erhofften Auferstehung der Toten in einen Auferstehungsleib personal transfiguriert wird. Das aber kann nur geglaubt und erhofft werden. Der Leib und erst recht der Auferstehungsleib entziehen sich unserem Zugriff. Der Leib besitzt eine geistige und geistliche Dimension.

Der Verfasser aber kennt nur Körper. Fleisch ist für ihn sogar das „Obskure unseres Körpers“. In seiner streng materialistischen Argumentation gelingt es ihm nicht, eine Brücke zu einer umfassenderen, geistigen Sicht auf unseren Körper zu schlagen. Sein Zugang ist reduktionistisch. Der Mensch ist für ihn im Grunde nur die Summe seiner Köperzellen. Von daher verwundert es nicht, dass er dem Christentum die Schuld für den Körperkult in der westlichen Welt gibt, weil das Christentum ungewollt für die „carneologische Inflation“ in der Welt verantwortlich sei: „Das moderne Individuum: nicht mehr himmlisches Geschöpf, sondern Eigenschöpfung im Kraftstudio“. Demuths Blick in die Zukunft des Menschen ist demnach „illusionslos“: „Es bleibt uns nur wenig anderes übrig, als eine mehr oder weniger gute Figur innerhalb dieser technisch-medialen Konfiguration zu machen. In ihr wird der Mensch, soweit man darunter das fleischlich verkörperte Subjekt der westlichen Neuzeit verstanden hat, als elektronisch vermittelte Informationsintelligenz recodiert. Die Identität der Cyberkultur baut komplexe, fluide Gebilde aus Technologie, Kommunikation und Bewusstsein zusammen (…). Das verwandelt unsere biologische Materie in eine Substanz von Daten. Anders ausgedrückt, Fleisch ist Information.“

Demuth führt uns in „Fleisch“ eine transhumanistische Bioutopie vor Augen, die die radikale Endlichkeit unserer Existenz durch Biotechnologie überwinden und damit den Menschen von seiner Krankheit zum Tode „erlösen“ will. Aus dem alten Menschen ist hier ein biologischer Datenspeicher geworden. Wieder einmal wird ein Neomythos (Linus Hauser) geboren, bei dem der Leser am Ende der Lektüre nicht so genau weiß, ob Demuths „Fleisch“ eine ernst zu nehmende Kulturgeschichte des Fleisches oder doch eher zur Science-Fiction-Literatur zu zählen ist. Gut geschrieben, aber zum Ende hin eine der zahlreichen Dystopien vom Ende des Menschen, der seine Seele und Gott verloren hat: „Die uralte menschliche Hoffnung, die eigene Hinfälligkeit und damit den Tod zu überwinden, seit alters her übertragen in den Kernbereich der Religionen, erfährt im Horizont des fleischlosen Metadesigns des Individuums eine human, eigenmächtige, von den Göttern unabhängig gewordene Antwort.“

Versuch einer Carneologie
Berlin: Matthes & Seitz Verlag. 2016
332 Seiten
28,00 €
ISBN N: 978-3-95757-233-2

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