Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns

Versuch über das Göttliche

Dieses Buch des renommierten Berliner Philosophen Volker Gerhardt (geboren 1944) hat mir von seinen ersten Zeilen an Unbehagen bereitet. Nicht in erster Linie wegen seiner ermüdend mäandernden Geschwätzigkeit. Vielmehr wegen etwas anderem: Es beschwört in Zeiten des Fragmentarischen und des Perspektivischen das eine große Ganze.

In dem Gefühl, das Freud kritisch als das „Ozeanische“ beschrieben hat (Das Unbehagen in der Kultur), findet es seinen Trost. Es versteht darunter etwas, das es in die Begriffe „Entsprechung“, „Korrelation“, „Korrespondenz“, „Ineinander“ oder „Verschränkung“ fasst. In der Verschränkung von Glauben und Wissen, von Selbst und Welt, von Gefühl und Verstand, von Leben und Tod, von Individualität und Universalität vernimmt es den „Sinn des Sinns“. Dieser verweise auf das Göttliche im Sinn eines die Welt und das Selbst „Umgreifenden“ (Karl Jaspers).

Den Glauben buchstabiert es entsprechend als das Gefühl für dieses verbindende Ganze: als weitausgreifendes Verlangen nach Zugehörigkeit zur alles integrierenden Einheit, zugleich nach Befreiung aus der Enge des eigenen Daseins. „Für den Gläubigen ist Gott die Welt, mit der man eins sein kann“, schreibt Gerhardt. Der Mensch strebe nach individueller Ganzheit durch zustimmende Teilhabe am universalen Ganzen. In diesem Streben offenbare sich das Göttliche als der tragende Grund für die daraus zu gewinnende Selbstachtung des Menschen. Insofern sich der Mensch persönlich auf dieses Göttliche bezogen fühle und wisse, könne man metaphorisch von Gott als „Person“ sprechen. Diesen Gott müsse man allerdings unterscheiden von dem, was die Dogmatik der Kirchen daraus gemacht habe.

Streng methodisch begrenzt – und darin maßgeblich Kant folgend – geht Gerhardt nicht so weit, zu behaupten, dass es Gott gebe oder geben müsse. Es handle sich vielmehr lediglich um eine begriffliche Referenz für das damit angezielte Entsprechungsbewusstsein. In dieser Hinsicht kämen wir um den Begriff des Göttlichen nicht herum. Doch auch wenn sich dessen Existenz damit weder beweisen noch widerlegen lasse (Kant), so sprächen doch viele Gründe dafür, an Gott zu glauben. Um diese Gründe geht es in der Einleitung, den sechs Kapiteln und dem Schluss („Beschluss“) dieser philosophischen Apologie des christlichen Glaubens.

Die Einleitung und die ersten beiden Kapitel dienen der Hinführung und kreisen im Wesentlichen um philosophische Meditationen über das Ganze, seinen Begriff und seine Bedeutung. An Heraklit, Parmenides, Platon und vor allem Kant führen sie vor Augen, wie die Philosophie im Bezug auf das Ganze das Göttliche als ein in das Denken und Handeln des Menschen eingebundenes Moment konzipiere, ohne ihm eine separate Existenz im Jenseits zumuten zu müssen. Im dritten Kapitel wird in einer „Stufenleiter des Sinns“ die körperlich-sinnliche Fundierung des Welt- und Selbstverstehens des Menschen im Medium eines rational mitteilbaren Sinns dargelegt, im vierten Kapitel das Aufeinander-angewiesen-Sein von Glauben und Wissen und im fünften Kapitel der Begriff des Göttlichen, der weder einen empirischen Gegenstand in der Welt noch dessen transzendente Existenz außerhalb bezeichne. Vielmehr sei damit das „Integral von Mensch und Welt“ gemeint, das die Bedeutung anzeige, die das Ganze der Welt für das Ganze eines Menschen ausmache. 

Im sechsten Kapitel wird schließlich unter den zuvor erschlossenen Voraussetzungen der Frage nachgegangen, inwiefern dieses Göttliche auch als Du angesprochen werden könne, wie in der christlichen Tradition. Obwohl in dieser Tradition die ursprüngliche Botschaft insbesondere von Johannes und Paulus verfremdet worden sei, hält Gerhardt – „mit allem Respekt vor der Kritik Voltaires, Humes und Feuerbachs“ – daran fest, dass diese Verfremdung „den Blick für die kulturgeschichtlichen Leistungen der christlichen Kirchen nicht verstellen dürfe“. Im „Beschluss“-Kapitel am Ende unterstreicht er dies noch einmal mit Blick auf Charles Darwins „Religious Belief“, auf die Rede von der „Flucht in den Glauben“ und auf den Widerstand im Dritten Reich. In allen drei Beispielen sieht er den existenziellen Bezug auf das Ganze am Werk, der letztendlich auch dem religiösen Glauben zugrunde liege.

Gerhardts Faszination am Ganzen entpuppt sich als ein Plädoyer für Partizipation und für Transparenz. Es drängt darauf, sich als Teil eines Ganzen zu verstehen, und aus diesem Bewusstsein heraus handeln zu können. Es sieht dieses Ganze im Medium des Sinns öffentlich wirksam werden – und das Göttliche als die äußerste Instanz dieser Öffentlichkeit der Welt: „So gesehen zentriert der das Ganze des Daseins personal repräsentierende Gott die intelligible Öffentlichkeit, ohne die es keine Vernunft geben kann.“

Was für eine erschreckende Vorstellung! Sie fordert geradezu den gläubigen Einspruch heraus: Wo bleibt das Geheimnis? Wo das Moment des Unfassbaren? Wo der Schutz vor dem Zugriff des Ganzen? Dieses Buch unterschlägt den mit dem Göttlichen verbundenen Gedanken der Unverfügbarkeit und der Entzogenheit. Der christliche Impuls zielt – gegen ein ozeanisches Aufgehen im Ganzen – auf ein rettendes Bewahren des Einzelnen.

München: C.H. Beck Verlag. 2014
357 Seiten
29,95 €
ISBN 978-3-406-66934-7

 

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