Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Volker Leppin: Ruhen in Gott. Geschichte der christlichen Mystik

Um es vorwegzusagen: Wer sich bündig und qualifiziert über christliche Mystik in ihrer Geschichte informieren will, ist hier bestens bedient; flüssig geschrieben, kenntnisreich und trotz konventioneller Gliederung nicht ohne Originalität, schlicht ein Lesegewinn und zudem ein Reader zum Nachschauen. Hier liegt in der Kürze der Zeitraffung von ganzen 2000 Jahren die Würze eines lichten Durchblicks durch viele Räume und nicht wenige Fenster. (Für eine ausführliche Gesamtdarstellung bleibt freilich Bernhard McGinns mehrbändiges Werk „Die Mystik im Abendland“ einschlägig.) Nun mehr im Detail.

Alles hängt natürlich vom leitenden Vorverständnis von „Mystik“ ab – einem Abstraktum, das erst im 17. Jahrhundert in Umlauf kam und heutzutage mit dem bestimmten Artikel als freischwebende, transhistorische und alle Kulturen und Religionen übergreifende Größe gehandelt wird. Als gäbe es ein Esperanto in der Vielfalt der konkreten Sprachkulturen tatsächlich! Immer ist das, was da „die Mystik“ heißen soll, eingebunden in konkrete historische, kulturelle und soziale Kontexte! Deshalb ist es gut, dass Leppin sich und der Leserschaft darüber (etwas) Rechenschaft gibt. Es geht historisch demnach „um Texte (!), die um die Vorstellung einer exzeptionellen Nähe zu Gott kreisen, die durch ihre Unmittelbarkeit die üblichen Frömmigkeitsformen überschreitet und im Individuum realisiert wird“ (15). Näher kann jedenfalls der Historiker dem intimen Lebensgeheimnis derer nicht kommen, die man Mystikerinnen bzw. Mystiker nennt: Zu unmittelbar und je einmalig ist ihre jeweilige Biografie und Sendung. Leppin nennt acht Aspekte, die seinen bewusst unscharfen Leitbegriff „unmittelbare Nähe“ eingrenzend bestimmen: Gottesbezug, innere Erfahrung, dann mit Wirkung nach außen Dynamik voll reinigender und transformierender Kraft, plötzliche Unterbrechung der Zeit- und Raumkontinuen im Hier und Jetzt, begrifflich niemals zu fassen und nur an der Wirkung zu erahnen. Reizvoll und notwendig wäre es, diese kluge Annäherung des Protestanten Leppin mit dem Vorbegriff des Katholiken McGinn zu vermitteln. Denn der will Mystik leitmotivisch verstehen als „Unmittelbare Bewußheit göttlicher Gegenwart“. Bezeichnend ist, dass bei Leppin die Namen Martin Buber und Hans Urs von Balthasar überhaupt nicht fallen; beide nämlich haben die Kategorie der „Erfahrung“ kritisch hinterfragt und wollten lieber von „Begegnung“ sprechen, um den kommunikativen und dialogischen Charakter der Gottes- und Selbst- wie Weltbeziehung in den Mittelpunkt zu rücken.

Nun zur unglaublichen Fülle konkreter Gestalten, Bewegungen und Symbolisierungen im Lauf der Geschichte. Glänzend wie Leppin das Wirken Jesu und die frühe Ausgestaltung des Christlichen im Kontext der antiken Umwelt erschließt. Mystik ist eben, biblisch buchstabiert, immer die Suche nach dem mystischen Sinn der heiligen Schriften – und keineswegs eine frei flottierende Erfahrung des vereinzelten Subjekts. Mit dem elementaren Zusammenhang von Bibel und Mystik ist zugleich das fundamentale Spannungsfeld von Kirche und Mystik, von Glaubensgemeinschaft und Einzelberufung aufgetan, nicht zuletzt im Raum der Liturgie. Die Geschichte christlicher Mystik ist immer auch die zwischen Orthodoxie und Häresie sowie zwischen Gottunmittelbarkeit und Kirchenreform(ation).

Natürlich kommen in Leppins Ahnengalerie zusammen mit spirituellen Aufbruchsbewegungen immer wichtige Einzelgestalten zu Wort: nach Augustinus besonders Bernhard von Clairvaux und sein Kreis, dann die vielfarbige Frauenmystik und die zahlreichen Aufbruchsbewegungen etwa in den Bettelorden. Mit dem Entstehen der Universitäten stellt sich neu die alte Frage nach Glaube und Verstehen, nach Eros und Vernunft, nach intellektueller und spiritueller Redlichkeit, nach monastischer und scholastischer Spiritualität. Das 12. Jahrhundert hat man mit Recht „Achsenzeit der christlichen Spiritualität“ genannt. Franziskanische, dominikanische, kartausische Mystikstile in Denken und Leben bilden sich aus. Nicht zufällig ist Meister Eckhart heute eine besondere Dialog- und Projektionsfigur. Leppin, der jüngst das derzeit beste Buch zu Franz von Assisi veröffentlicht hat, erweist sich als sehr gut informierter Interpret jenes geistlich vielstimmigen Hochmittelalters, das das genaue Gegenteil von „finster“ oder „dunkel“ war, nämlich eine unglaublich schöpferische Brunnenstube der Moderne im Spannungsfeld von Kontemplation und Aktion, Vernunft und Glaube, von Lehre und Leben.

Selbstverständlich bilden Vor- und Nachgeschichte der Reformationen im 16. Jahrhundert einen weiteren Schwerpunkt der Darstellung. Schon im Jubiläumsjahr der Reformation hatte der Tübinger Kirchengeschichtler „Luthers mystische Wurzeln“ gerade bei Eckhart aufgedeckt. Entsprechend kommen hier Vor- und Nachgeschichte von Luthers Wirken differenziert und informativ zu Wort: die sog. Devotio moderna davor ebenso wie die pietistische und orthodoxe Vielfalt danach. Wie selbstverständlich werden Luther, Ignatius und Teresa von Avila in ihrer jeweiligen Besonderheit in einem Atemzug dargestellt. Überhaupt erfreut und überrascht die ökumenische Souveränität, mit der Leppin auch ostkirchliche Entwicklungen im Auge behält, freilich notgedrungen knapp. Der sog. Hesychasmus z.B. nimmt schon im Namen jenes biblische Hoffnungswort auf, das Leppins Werk den Titel gibt: sabbatliches „Ruhen in Gott“.

Die kraftvolle Verdichtung geschichtlicher Prozesse und ihre ansprechende Darstellung prägen auch die letzten Abschnitte, die mit zunehmendem Tempo und markanter Straffung auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zulaufen: das Interesse an Mystik seit Schopenhauer und Nietzsche, in Kunst und Literatur etwa bei Rilke oder Musil und die hoch ambivalente Eckhart-Konjunktur, bis zu den Nazis, schließlich im kurzen Ausblick „die Neubelebung der Mystik nach dem Zweiten Weltkrieg“. Gerade im Blick auf das 19. Jahrhundert hätte man ausführlicher von mystischen Aufbrüchen im Umfeld des Sozialen und Diakonischen berichten können. Solche Defizite sind der Auszeichnung großer Linien geschuldet, und dazu gehört, dass Leppin ein eigenes Kapitel zur katholischen Mystik Frankreichs nicht vergisst und sogar ein Seitenfensterchen Richtung nordamerikanische Verfassung öffnet.

Gut vorinformierte Leserinnen und Leser werden in diesem sprachlich wie inhaltlich glänzenden Werk neue Anregung finden; im Ganzen entsteht das Panorama einer aufregenden Inkarnationsgeschichte, die einer Schatzkammer gleicht. Diese ökumenische Weite steht inzwischen freilich ganz im Dienst einer Welt, die interreligiös und interkulturell nach Einheit und Frieden schreit. Dringend geboten wäre vom Schluss der Lektüre her eine theologische und spirituelle Zusammenstellung dessen, was christliche Mystik heißt zwecks Unterscheidung der Geister und um des allfälligen interreligiösen Dialoges willen. Zusammen mit Thomas Merton und Lasalle zitiert Leppin am Schluss treffend Dag Hammarskjöld: „Der Weg zur Heil(ig)ung geht in unserer Zeit notwendig über das Handeln.“

München: C.H. Beck Verlag. 2021
476 Seiten mit farb. Abb.
32,00 €
ISBN 978-3-406-77375-4

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