Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Wilhelm Vossenkuhl: Ethik und ihre Grenzen

Wilhelm Vossenkuhl ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität München. Er legt mit diesem Band eine Reflexion über das gesamte Feld der Ethik vor und betont die erzählerische Herangehensweise, die sich aus zwei Quellen speist: die alltäglichen Fragen und Sorgen der Menschen und die lange Geschichte der ethischen Reflexion. Schon ein Blick ins Personenregister zeigt, dass es vor allem die Metaphysik der Sitten des Immanuel Kant ist, an der der Autor sich abarbeitet: Während Kant seine Rechtslehre und Tugendlehre allerdings in systematischer Gliederung aus den zugrunde gelegten Prinzipien der praktischen Vernunft herleitet, fragt Vossenkuhl nach den Grenzen der Ethik und reiht ohne Systembildung Überlegungen zu relevanten Begriffen aneinander: Sorge, Tugenden, Scham, Freiheit, Würde, Vernunft, Gerechtigkeit, Natur, Umwelt und andere.

Die Leistungsfähigkeit jeder Ethik ist begrenzt, weil sie zwar logisch begründen kann, was man tun und unterlassen soll, aber kein Motiv bereitstellt, warum man ethisch handeln soll. Ein solches Motiv ist enthalten in den Sitten, in der Sorge um ein gelingendes Leben, in dem durch vielfache Zugehörigkeiten bedingten Gefühl dafür, was sich gehört und was sich nicht gehört. Vossenkuhl spricht von kulturellen Räumen, von Mentalitäten, die prägend sind. Aber nicht alles, was in einer Gemeinschaft für geboten erklärt wird, ist auch sittlich gut, zum Beispiel der nationalsozialistische Rassismus. Deshalb wird eine Ethik gebraucht, die unterscheidet, was dem Menschen zur Pflicht gemacht werden kann.

Ein zentrales Konzept verschiedener Systeme der Ethik ist die Würde des Menschen, die in den Augen Kants verletzt wird, wenn einer den anderen als bloßes Mittel zum Zweck missbraucht. Aber wie lässt sich dieser Begriff in gesellschaftlichen Debatten anwenden, in denen es um die Verteilung knapper Rechts- und Sachgüter geht – zum Beispiel zwischen Bürgerinnen und Bürgern eines Landes und Asylsuchenden? – Vossenkuhl greift auf einen Vorschlag zurück, den er bereits in früheren Veröffentlichungen gemacht hat, die Maximenmethode, die aus drei Schritten besteht: (1) Die Knappheitsmaxime definiert die Anspruchsunterschiede, die beachtet werden müssen, soll die Geltung des Verteilungssystems nicht an berechtigtem Widerstand scheitern. (2) Die Normenmaxime berücksichtigt, dass der Anspruch auf Menschenwürde, den alle haben, mit anderen normativen Ansprüchen – z.B. materieller Absicherung – in Übereinstimmung gebracht werden muss. Schließlich fordert (3) die Integrationsmaxime, dass Anspruchskonflikte durch Aufklärung überwunden werden, zum Beispiel durch Sprach- und Schulunterricht.

Das Buch enthält eine Reihe von anregenden Denkanstößen wie den kurz dargestellten; das Buch aber ist keine Erzählung, sondern eine abstrakte Reflexion. Auffällig fehlt, wenn es um die theoretische Begründung ethischer Regeln und deren praktische Umsetzung geht, die dritte der kantischen Grundfragen: Was darf ich hoffen? Denn das Motiv, das Begründbare tatsächlich zu tun, könnte bei vielen Menschen ein religiöses sein.

Eine Einführung als Erzählung
Hamburg: Meiner Verlag. 2021
188 Seiten
19,90 €
ISBN 978-3-7873-3965-5

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