Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jürgen Werbick: Theologie anthropologisch gedacht

In seiner viel beachteten Abhandlung „Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage“ entwirft der tschechische Theologe und Soziologe Thomás Halík einen methodologischen Zugang, der das Verhältnis von Glaube und Kultur zu fassen versucht, und nennt diesen Kairologie. Diese theologische Hermeneutik, so Halik, ermögliche den christlichen Anspruch, die Zeichen der Zeit wahrnehmen, deuten und entsprechende Konsequenzen aus ihnen ziehen zu können. Notwendigerweise bedarf eine solche theologische Konzeption einer interdisziplinären akademischen Zusammenarbeit: „Die Theologie ist der Dienst am Glaube; der christliche Glaube hat jedoch in der Kultur und Gesellschaft Gestalt angekommen, und wenn wir ihn verstehen und ihm dienen wollen, müssen wir ihn in seinem Kontext wahrnehmen und auch diesen...

Markus Zimmermann: Gewalttätiger Gott – gewalttätiger Glaube?

 

Zu den besonders erschreckenden Gewalttaten, von denen aus beinahe jedem Krieg berichtet wird, gehört die Tötung von Kindern. Sie ist das Kriegsverbrechen, das die Emotionen am stärksten erregt und gegen die Aggressoren aufbringt. Umso schlimmer, wenn eine solche Gewalttat von Gott selbst befohlen wird – wie in 1 Sam 15: Durch Samuel gibt er Saul den Befehl, alle Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder, Schafe, Kamele und Esel der Amalekiter zu töten. Da Saul den Befehl nicht exakt ausführt, sind seine Tage auf dem Thron gezählt.

Für Markus Zimmermann, Fundamentaltheologe und Dogmatiker an der Päpstlichen Universität Gregoriana, ist diese Stelle ein Beispiel für die religionshistorisch vielfach belegte „Gewalt ad extra“. Auch die „Gewalt ad intra“ entdeckt Zimmermann in der...

Werner Schüßler: Vom Ich, der Liebe und dem Tod

 

Mensch zu sein und immer mehr zu werden, impliziert auch, ein Ich sein zu können, in Beziehung zu leben und mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu sein. Die philosophische Frage nach dem Ich, nach der Liebe und nach dem Tod behandelt der Autor in den drei miteinander verknüpften Kapiteln seiner klar gegliederten, nuancierten Darstellung.

Von Karl Jaspers‘ existenzphilosophischer Analyse grundiert, umkreist das erste Kapitel zentrale anthropologische Aspekte der Frage nach dem Individuum. Der Autor wehrt sich gegen rationalistische Einseitigkeiten hinsichtlich des Ichs. Er setzt sich deshalb anschaulich mit kybernetischen Verengungen auseinander. Das Leben des Einzelnen manifestiert sich in unterschiedlichen, aufeinander aufbauenden Seinsschichten. Der rationalistischen...

Martin Hoffmann: Protestantische Ethik

 

Es herrscht kein Mangel an Lehr- und Handbüchern der evangelischen Ethik. Warum also noch ein neues zur Hand nehmen? Antwort: Weil hier ein Autor schreibt, der in zwei sehr differenten kirchlich-theologischen Milieus und ihren Sprachen zuhause ist und diese Milieus zu einem ungewöhnlichen, ja: eigensinnigen Entwurf zusammenbindet. Der Verfasser, mit einer Arbeit über den lutherischen Theologen Hans-Joachim Iwand promoviert (Bezeugte Versöhnung, 1988), war Gemeindepfarrer und Rektor der (evang.-luth.) Predigerseminare in Bayreuth und Nürnberg. Seit zehn Jahren aber lebt er in Costa Rica und lehrt an der Universidad Bíblica Latinoamericana (San José).

Ganz im Sinne kontextueller Theologien beginnt Hoffmann zunächst in Teil I mit einer Beschreibung der sozial-religiösen Situation in...

Rainer Enskat: Aufklärung – Wissenschaft – Religion

 

In seinem in einem essayistischen Format gehaltenen Buch diagnostiziert Rainer Enskat ein neuzeitliches Spannungsfeld, das an eine Zerreißprobe grenzt. Anhaltspunkte dafür sieht er in der Selbstüberschätzung des Aufgeklärtseins, dem grenzenlosen wissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus sowie im Heilsversprechen des Konsumismus. Die Themen Aufklärung, Wissenschaft und Religion markieren hierbei die zum Verständnis der Struktur des Spannungsfeldes entscheidenden Größen. Zur Erfassung dieser Struktur muss geklärt werden, ob innerhalb von Wissenschaft Aufklärung vollständig geleistet werden kann, und, wenn Religion angesichts von Wissenschaft und Aufklärung überhaupt eine Rolle spielen kann, welche das dann sein soll.

Enskat wählt zur Erklärung der Genese des Spannungsfeldes drei...

Michael Quante: Der unversöhnte Marx

Bei der Fülle der Marx-Publikationen, die anlässlich des 200. Geburtstages des Trierer Philosophen auf den Markt kamen, konnte man diesen schmalen, aber inhaltlich gehaltvollen Essay-Band leicht übersehen. Umso verdienstvoller ist es, dass sich der Verlag nun zu dieser gründlich überarbeiteten Auflage entschloss. Der Münsteraner Philosoph Michael Quante setzt bei seinen Lesern allerdings einiges an Kenntnis voraus. Für diese Zielgruppe der „Kenner“ aber bietet er eine Lesart an, die Marx‘ bleibende Aktualität weit über die oberflächlichen Aktualisierungen hinaus begründet. Im einleitenden langen Essay „Die Philosophie des Karl Marx“ entfaltet der Autor seine beiden Hauptthesen. Die übrigen Kapitel des Bandes beleuchten diese nochmal von einer besonderen Perspektive her.

Der Kern des...

Annette Kehnel: Wir konnten auch anders

Annette Kehnel (geb. 1963) ist Historikerin an der Universität Mannheim. Ihr Schwerpunkt ist die historische Anthropologie. In früheren Schriften hat sie sich mit dem Kloster Clonmacnoise in Irland und mit der franziskanischen Bewegung befasst.

Als Hans Carl von Carlowitz 1713 den Begriff der „Nachhaltigkeit“ notgedrungen in die Forstwirtschaft einführte, erfand er zwar einen neuen Begriff, aber die Praxis und Theorie nachhaltiger Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen gab es schon lange zuvor. Im Zuge der Moderne wurden die Theorien des 13. und 14. Jahrhunderts vergessen, und Kulturen der Bewirtschaftung, die viele Jahrhunderte lang funktioniert hatten, wurden im Namen des Fortschritts verdrängt. Das Ergebnis ist bekannt: Natürlicher Reichtum, wie z.B. die Artenvielfalt, schwindet,...

David Graeber / David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit

Was haben Karneval, Weihnachten, die Zeit zwischen den Jahren und die großen Ferien mit menschlichen Kulturen zu tun, die 45.000 Jahre vor uns existierten, etwa den Erbauern von Stonehenge oder den Naturvölkern im Amazonas-Gebiet? Warum sollten wir vielleicht besser nicht von einem kontinuierlichen „Fortschritt der Menschheit“ ausgehen, der immer die abwerten muss, die auf irgendeiner der von europäischen Ethnologen definierten Entwicklungsstufe „stehengeblieben“ sind? Die Antworten erfahren wir aus dem bahnbrechend-aktuellen ethnologischen Bestseller des jüngst verstorbenen Star-Autors David Graeber und seines Kollegen David Wengrow. Das allerdings ist eine Herausforderung, muss man hier doch neben dem umfangreichen Literatur- und Anmerkungsapparat immerhin 560 Seiten Text bewältigen.

Di...