Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Foto: Cornelia Vogt

Kreuzmaßstab

Nicht am Kreuz müssen wir Maß nehmen, sondern mit dem Kreuz.

Dass ein zerbrochener und wieder zusammengeleimter Zollstock, ein Maßstab also, zum Kreuzesbalken wird, hat mir sofort eingeleuchtet. Nicht am Kreuz müssen wir Maß nehmen, sondern mit dem Kreuz. Ich glaube, dass Josef Enigmatter, der dieses Kruzifix hergestellt hat, auf solche Mehrfachcodierungen aus ist. Erst beim genauen Hinsehen entdecken wir Details. Am rechten Balkenende ist ein kleines Bruchstück des Zollstocks angeleimt, auf dem die Buchstaben „GmbH“ zu lesen sind: „Gesellschaft mit beschränkter Haftung.“ Sicher kein Zufall. Wer ist diese Gesellschaft? Haftet sie nur beschränkt? Was hat die Vorstellung von einem barmherzigen Gott, der dort eintritt, wo die Menschen nicht mehr haften, am Kreuzesbalken zu suchen?

In den Zeiten, in der die Kunst mit Installationen und Performances arbeitet, ändert sich ihr Verhältnis zur Theologie, die ja von Präpositionen und Sätzen lebt. Hier empfangen wir eine Botschaft ohne Worte, die aber zur Übersetzung reizt.

Eine andere Lesart wäre, dass diejenigen, die das Kreuz Christi hergestellt haben, also die Feinde des Gekreuzigten, eine „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ wären. „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!“...

Von Enigmatter haben wir erfahren, dass er auf einem aufgelassenen und demolierten Friedhof in der Bretagne den Christuscorpus, aus Blei oder Zinn gegossen, in der Mitte durchgebrochen, gefunden hat. Es ist ein traditioneller Kruzifix-Typus, wie er überall auf den europäischen Friedhöfen des 19. und 20. Jh. zu finden ist. Eigentlich ist es eine sehr anrührende Darstellung, die nur durch ihre tausendfache Multiplikation einem Abnutzungsprozess ausgesetzt ist. Wir werden an Walter Benjamins berühmten Aufsatz erinnert: „Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit.“ Es geht um den Augenblick, dem Glauben nach, den absoluten Augenblick eines Zeiten wendenden Ereignisses. Christus stirbt am Kreuz, die Lippen sind zu den letzten Worten geöffnet. Dem unbekannten Urkünstler gelingt es, den Moment festzuhalten, in dem der Blick nach innen gerichtet ist, kurz bevor er bricht.

Die Blasphemiker, die neuerdings die Grausamkeit dieser Darstellung und die Eindringlichkeit als Sadomaso-Perversion kennzeichnen, machen uns so auf die Ungeheuerlichkeit der grausamen Folter am Kreuz aufmerksam. So abseitig oder auch manchmal bösartig solche Unterstellungen uns vorkommen, so sehr eröffnen sie uns auch wieder einen Zugang zum ursprünglichen Schicksal dieses genagelten Mannes. Zwar kennen wir alle den „Schriftbeweis“, dass ihm kein Gebein zerbrochen werden sollte, wie es beim Propheten vorausgesagt ist (Joh. 19,36), doch der Mann ist ein gebrochener Mann. Hier können wir es sehen.

Ob aus Lust am Bösen oder durch unbeabsichtigte Unachtsamkeit, das Kruzifix wurde etwas unterhalb der Mitte durchgebrochen. Man hätte die Bruchstelle wieder zusammenfügen, ein Restaurator hätte sie gewiss nahezu unkenntlich machen können. Das Gegenteil tat Josef Enigmatter, der bewusst einen klaffenden Abstand bestehen lässt und diesen noch durch Einfärbung eines roten Randes dramatisiert. Dieses Kruzifix hat eine Geschichte, die ihm Bedeutung verleiht. Zwischen Nabel und Solarplexus klafft ein kleines Loch wie von einem Kleinkaliberdurchschuss. Auch seine Ränder sind mit roter Farbe unterstrichen. Enigmatter wollte aber offensichtlich heilen, sonst hätte er nicht die Arme und Beine mit Leukoplast, also mit einem Heilpflaster umwickelt und so den Corpus auf dem Maßstab befestigt.