Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Foto: Michael Hughes © LAIF

Das Kreuz mit dem Kreuz

Zur Frage religiöser Symbole in der Schule

Torheit und Ärgernis – der gesellschaftliche Befund des 1. Korintherbriefs zum Umgang mit dem Kreuz Jesu könnte in unseren Tagen ähnlich ausfallen. Regelmäßig werden deutsche Gerichte von Gegnern religiöser Symbole mit der Frage behelligt, ob sie solche Zeichen zu dulden haben. Auch in der Schule, einer staatlichen Institution, der man sich nicht so leicht entziehen kann, kommt es zu Konflikten: Kreuze in den Klassenzimmern, Adventskränze und Krippen zur Weihnachtszeit, der Segen der Heiligen Drei Könige über den Türrahmen, künstlerisch gestaltete 10 Gebote auf Schulhofwänden. Für
die Gegner religiöser Symbole lauert das Religiöse hinter jeder Ecke und soll bekämpft werden, bevor es dort hervorkommt. Selbst die Europäische Union will helfen. Die EU plant gerade ein entsprechendes Gesetz, wonach religiöse Symbole im öffentlichen Raum untersagt werden könnten. Nationalstaatliche Differenzierungen, die kirchliche Interessen berücksichtigen, drohen wieder einmal zugunsten einer simplifizierenden Einheitsregelung eingeebnet zu werden. Dabei scheint ein Verbot religiöser Symbole in öffentlichen Gebäuden zunächst auch durchaus mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar.
Vom weltanschaulich neutralen Staat wird der atheistische Eiferer doch wohl erwarten dürfen, dass dieser ihn vor Zumutungen religiöser Art bewahrt.

Und tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise schon 1995 entschieden, dass Kreuze im Klassenzimmer nicht per Gesetz vorgeschrieben werden dürfen (BVerfGE 93,1). Dabei stützt das Gericht seine Entscheidung im Wesentlichen darauf, dass Art. 4 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit garantiere, nach eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln oder an kultischen Handlungen teilzunehmen, sondern eben auch gerade solchen fernzubleiben. Art. 4 Abs. 1 GG überlasse es dem Einzelnen zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkenne und verehre oder welche er ablehne. Auch dürften religiöse Bezüge in der Schule nur ein unerlässliches Minimum an Zwangselementen enthalten. Die Schule dürfe keine missionarische Schule sein und keine Verbindlichkeit für christliche Glaubensinhalte beanspruchen. Dort aber, wo Kreuze verbindlich vorgeschrieben würden, seien die Schüler angesichts der allgemeinen Schulpflicht während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit dem Symbol des Kreuzes konfrontiert und so gezwungen, „unter dem Kreuz zu lernen“.

In einer anderen Entscheidung aus dem Jahre 1979 hatte das Bundesverfassungsgericht der religiösen Praxis in der Schule noch offener gegenübergestanden (BVerfGE 52, 223). Damals klagten die Eltern eines Schülers gegen das Schulgebet in einer hessischen Grundschule. Die Klage blieb erfolglos. Das Gebet sei zulässig und dem Schüler zuzumuten, während des Gebetes außerhalb der Klasse zu warten, wenn er nicht mitbeten wolle. Rücksichtsnahme und Toleranz wurden hier dem Schüler abverlangt, der sich gegen das Religiöse in der Schule wendet. Die Kruzifixentscheidung dreht dieses Verhältnis in der Praxis um: Da sich der Schüler dem Kreuz nicht entziehen kann, muss die ganze Klasse auf das Kreuz verzichten. Das Bundesverfassungsgericht schätzt somit jene mögliche Belastung, die vom Kreuz ausgehen könnte, weitaus höher ein als das mögliche Gefühl einer Diskriminierung, das jener Schüler erdulden muss, der sich der Belastung durch das Gebet nur durch Verlassen der Klassengemeinschaft entziehen kann. Das Kreuz ist nach Auffassung des Gerichts das spezifische Glaubenssymbol des Christentums und sinnbildlicher Ausdruck des Kerns christlicher Glaubensüberzeugungen. Für den Nichtchristen oder Atheisten sei es daneben auch das Symbol der missionarischen Ausbreitung des Christentums. Das Kreuz könne nicht der in ihm symbolisierten Glaubensinhalte entkleidet und auf ein bloßes Zeichen abendländischer Kulturtradition reduziert werden. Eine solche Profanisierung des Kreuzes laufe dem Selbstverständnis des Christentums zuwider. Das Kreuz habe appellativen Charakter und weise die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig aus.

Das Bundesverfassungsgericht hat damit dem Kreuz eine Bedeutung zugemessen, die eigentlich sehr wünschenswert ist. Dennoch aber hat es die vom Kläger behauptete Belastung des Schülers durch ein Kreuz im Klassenzimmer überbewertet. Ein Kreuz hängt – anders als beispielsweise das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin – losgelöst von jeglicher Person oder religiösen Interaktion und Institution oft völlig unbeachtet im Klassenraum „einfach vor sich hin“. Im Unterschied zum katholischen Sakramentsverständnis realisiert und bewirkt das Kreuz nicht zugleich das, was es symbolisiert. So übt es wohl kaum einen unmittelbar belastenden, nicht hinzunehmenden Einfluss auf die negative Religionsfreiheit des Schülers aus. Das Bundesverfassungsgericht aber hat eine subjektiv negative Beeinträchtigung des Klägers durch das Kreuz einer offenen Deutung vorgezogen.

Wenn das Bundesverfassungsgericht das Kreuz im Hinblick auf seine Belastung für Dritte schon so immens auflädt, müsste es dann nicht auch das Kreuz ernst nehmen, wenn es zwischen Religionsfreiheit und Kunstfreiheit bei für Christen verletzenden Kreuzesdarstellungen abzuwägen hat? Müsste es dann nicht auch die „christliche
Wertevermittlung“ ernst nehmen, die in zahlreichen Schulgesetzen – auch dem Hessischen – normiert ist? Und sollte es dann nicht auch die Bedeutung des „Christlichen“ der in einigen Bundesländern als staatliche Regelschule bestehenden christlichen Gemeinschaftsschule mehr achten, statt darin lediglich die Anerkennung eines „prägenden Kultur- und Bildungsfaktors“ zu sehen? Die Verfasser der Präambel des Grundgesetzes wussten noch um die Bedeutung des Religiösen für den Staat. Auf den rauchenden Trümmern Deutschlands hatten sie die zerstörerische Gefahr eines religionsfernen Staatswesens vor Augen. Die Anrufung Gottes in der Präambel relativiert Allmachtsansprüche von Mensch und Staat. Zugleich entlastet der Gottesbezug die verantwortlichen Autoritäten, zeigt er doch, dass staatliches Handeln nicht per se ein gelungenes Gemeinwesen bewirkt. Vielmehr muss der Staat offen sein für eine Dimension und eine Vernunft, die der positivrechtlichen Struktur vorausgeht und diese füllen kann.

Allerdings ist dem Staat eine Privilegierung bestimmter Bekenntnisse untersagt. Das Spannungsverhältnis zwischen den ver- schiedenen religiös-weltanschaulichen Überzeugungen ist unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes dahingehend zu lösen, dass keine der widerstreitenden Positionen bevorzugt, sondern alle einem möglichst schonenden Ausgleich zugeführt werden. Dies aber bedeutet nicht, dass ein Kreuz im Klassenraum auch den islamischen Halbmond über der Tafel erfordert oder tibetische Gebetsfähnchen über den Schulhof flattern müssen. Denn der Staat unterliegt nicht prinzipiell einem strikten Gleichbehandlungsgebot. Er ist nicht gezwungen, grundsätzlich alle Religionsgemeinschaften unterschiedslos zu behandeln. Denn nicht alle Religionsgemeinschaften sind gleich – eine unterschiedslose Gleichbehandlung würde die Mitglieder unterschiedlich treffen. Auch die gesellschaftliche Bedeutung der jeweiligen Religionsgemeinschaft, die Zahl ihrer nachweislichen Mitglieder, ihre sozialen, integrativen und kulturellen Leistungen sowie ihre Unterstützung der Werteordnung des Grundgesetzes können für den Staat nicht unbeachtlich bleiben. Die Beachtung solcher Unterschiede muss erst recht gelten, wenn der Staat über die Gewährleistung der Religionsfreiheit hinaus Religionsgemeinschaften unterstützen möchte, beispielsweise indem er christliche Symbole im öffentlichen Raum zulässt.

Diese Toleranz des Staates ist aber nicht losgelöst von der tatsächlichen Bedeutung des Religiösen in der Gesellschaft. Damit insbesondere die „Religion des Kreuzes“ (Tertullian) nicht zur bloßen Folklore verkommt und lediglich Denkmalschutz genießt, müssen Christen durch ihr Lebens- und Glaubenszeugnis dafür eintreten. Das Böckenförde-Axiom – der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann – bleibt wertlos und widersprüchlich, solange Christen im gesellschaftlichen Diskurs nicht aus ihrem transzendenten Reservoir und ihren spezifischen Vernunftsressourcen schöpfen. Diesen Weg kann der Staat nur ebnen, gehen darf er ihn nicht.