Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Joris-Karl Huysmans, franz. Schriftsteller (1848-1907)

Nicht der galiläische Adonis

Der Antichrist bei Baudelaire, Huysmans und Nietzsche

In der sog. Dekadenz wird der Antichrist zum Gegenspieler eines
Christus, der auf der Seite der Herrschenden steht und die Armen,
denen die Erlösung galt, vergessen hat.

Das 19. Jahrhundert war nicht nur das der Aufklärung,
sondern auch der Theo- und Anthroposophie,
der spiritistischen Zirkel und Geisterphotographie –
und das Jahrhundert des Antichristen. Er verkörperte
den Protest gegen eine erschreckende, materialistische
Moderne mit ihren irdischen Heilsversprechen. Im sog.
Renouveau catholique blieb Satan der Gegenspieler
Gottes, so in G. Bernanos‘ „Die Sonne Satans“. Wieder
andere und diese Autoren sollen im Folgenden im Fokus
stehen, legten dieser Anti-Figur promethische und
luciferische Züge zu und machen ihn damit zum eigentlichen
Licht-, d.h. Heilsbringer; dies galt vor allem
für die französische décadence.

Die décadence: Katholizismus und Satanismus

Inmitten des scheinbar säkularisiert endenden 19.
Jahrhunderts, des Fin de Siècle, spielte die Religion
in der europäischen Literatur eine bedeutende Rolle.
In England und Frankreich etwa gab es nicht nur ein
„Catholic Revival“, sondern auch eine Literatur, die katholizismusaffin
war, so dass zahlreiche ihrer Protagonisten
zum Katholizismus konvertierten: die sog. Dekadenz.
Geprägt war diese Literatur von der Vorstellung,
sich in einer Phase der Zivilisation zu befinden, welche
die Menschen und die Gesellschaft korrumpiert habe.
Die Erscheinungen dieser Korruption stehen im Zentrum
zahlreicher Werke. Die Literatur habe nunmehr
die Aufgabe, das Schöne zu zeigen, und dies vor allem
als Inversion des Guten: In den unbekannten Tiefen der
menschlichen Psyche, so Baudelaire, solle der Dichter
Neues entdecken. Die Hauptsache war, dass dieses
„Neue“ den Menschen bewegte, sei es im Guten oder
im Schlechten. Diese Suche nach dem Affekt kontrastiere
die Langeweile (ennui) des gegenwärtigen Zeitalters.
In dieser Frontstellung sahen sich zahlreiche
Künstler an der Seite der katholischen Kirche und
ihres Abwehrkampfes gegen eine als modernistisch
empfundene Welt. Für manchen der Dekadenzautoren
sind sogar Aussprüche überliefert, wonach jeder wahre
literarische Künstler Katholik sein müsse. Exemplarisch
auch das Gedicht Baudelaires „L´Albatros“: Der
Dichter verglich sich mit einem Albatros, der, auf dem
Boden tolpatschig, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft
fehl am Platze wirken musste.

Doch haben wir es bei Autoren wie Gabriele
D´Annunzio († 1938), Charles Baudelaire († 1857), Arthur
Rimbaud († 1891), Joris-Karl Huysmans († 1907) und
Oscar Wilde († 1900) nicht gerade mit Leuchttürmen
der katholischen Moral zu tun. Vielmehr stellte für diese
Autoren der Katholizismus nur einen von zwei Polen
dar, der andere: Sex, Sadismus, Hysterie und Schmerz,
deren Betonung auch eine Kritik am rational-wissenschaftlichen
Ansatz des zeitgenössischen Christentums
darstellte. Dennoch konnte Charles Baudelaire
als früher Vertreter der Dekadenz behaupten, seine
„Fleurs du Mal“ seien in ihrem Kern daher katholisch,
weil sie von einer Ablehnung des zeitgenössischen
materiellen Fortschrittsdenkens zeugten. So wurde
der Begriff der Dekadenz vor allem in Frankreich als
eine positive Selbstbezeichnung verstanden. Gegenüber
einer als vulgär empfundenen, utilitaristischen
und subjektivistischen Industriegesellschaft stellte
die décadence einen positiven Neuanfang dar, indem
sie gegen verhärtete gesellschaftliche Konventionen
verstieß. Sie zeigte das Dunkle, Perverse, Korrupte, den
Schmerz und das Böse. Hervorgehoben werden sollte
eine Schönheit jenseits von Gut und Böse; dies musste
Kirche und Gesellschaft als sündhaft erscheinen.

So besaß die Dekadenzliteratur sowohl den Charakter
des Destruktiven und Rebellischen, indem sie darauf abzielte, gesellschaftliche Konventionen zu
durchbrechen; zum anderen schuf sie in einem kreativen
Prozess Neues. In diesem kreativen Prozess
führte jedoch die Rebellion des sich von Gott verlassen
gefühlten Menschen zu einer Ersetzung Gottes durch
die Apotheose der Kunst. Das Böse spielte hierbei die
Rolle einer„Christianity through the back door“ (T.S.
Eliot). Die Figur des Satans und der Satanismus, die
Blasphemie und die Thematisierung von Sünde und
Schuld dienten nicht allein der Rebellion, sondern betonten,
dass die Autoren auch die christlichen Glaubensinhalte
als ausgehöhlt und leer betrachteten. Das
Christentum musste neu entdeckt werde. Vor allem die
(Erb-)Sünde und die Unvollständigkeit des Menschen
waren etwa für Baudelaire die Grundlage von Erfahrung
überhaupt. Eine Zeit, die die Sünde zugunsten des
Fortschrittsoptimismus vergessen hatte, musste auch
die Möglichkeit echter Erfahrung verlieren. Baudelaire
wollte die Sünde wieder ins Bewusstsein zurückholen.
Die provokante Offenbarung der eigenen (realen und
literarischen) Schlechtigkeit sollte der Gesellschaft einen
Spiegel vorhalten, deren voyeuristischer Blick ihre
eigene Schlechtigkeit bloßlegte.

So ist für ihn und andere auch die Bezeichnung als
„Catholic Diabolist“ geprägt worden; diese Verbindung
ist es, die uns im Folgenden weiter interessieren wird,
und die an zwei der bekanntesten Werke jener Epoche
expliziert wird: an Baudelaires „Fleurs du Mal“ und an
Huysmans „Là-bas“.

Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal (1857)

„Ich bin [...] sehr stolz darauf, ein Buch hervorgebracht
zu haben, das ausschließlich den Schrecken und das
Grauen vor dem Bösen atmet.“ Die „Fleurs du Mal“
von Charles Baudelaire sind bis heute in Deutschland
eines der bekanntesten Werke aus der Epoche der décadence.
Baudelaire brachten sie einen Strafprozess
wegen Beleidigung der öffentlichen Moral ein, so dass
mehrere der Gedichte in der zweiten Auflage von 1861
nicht erscheinen durften. Baudelaire wurde zum Vorwurf
gemacht, die Ideen von Gut und Böse verkehrt zu
haben.

Die Blumen sind dem Teufel als dem Herrn der
Schöpfung gewidmet, demjenigen, der in seiner Allgegenwart
über das Innerste des Menschen regiert. Baudelaire
entwirft bereits in der Vorrede seines Werkes
eine schwarze Anthropologie, nach der es gerade die
menschliche Imagination sei, die dadurch für das Böse
empfänglich sei, dass sie sich langweile (ennui). Der
Niedergang der menschlichen Vitalität in der Moderne
bildet die Quelle eines genüßlichen und kontemplativen
Konsum des Bösen nicht der Tat, sondern der
Simulation in der Phantasie, welche sich durch die Ästhetik
der „Fleurs du Mal“ jenseits von Gut und Böse
stellt.

»Die Schwarze Messe stellt eine Konfiguration der
Hl. Messe dar, die sie in pervertierter Form reproduziert.«

Andreas Matena

Im vorletzten, mit dem Titel „Révolte“ überschriebenen
Teil der „Fleurs“ finden sich die Gedichte die
„Verleugnung des heiligen Petrus“, „Abel und Kain“
– und die „Satanslitaneien“. Letztere preisen den Satan
als erleuchtenden (luziferischen), promethischen
Verwahrer tiefen Wissens, das dem Menschen durch
Gott vorenthalten worden war. Hier ist aus Satan geworden,
was sich seit Miltons „Paradise Lost“ (1667)
andeutete – eine invertierte Kraft. Ihm kann sich der Mensch trost- und hilfesuchend zuwenden. Satan hat
seine ungerechte Verbannung in die Hölle nicht nur
überstanden, sondern sich aus seiner Niederlage gestärkt
erhoben: Er schenkt dem Notleidenden aus Liebe
heraus Hoffnung, Rettung und Erkenntnis. Gott
dagegen entschlummere, so die „Verleugnung des heiligen
Petrus“, sobald die „Flut von Flüchen“ und die
„Seufzer, welche man Gefolterten erpreßt“, zu ihm aufsteigen.
Selbst Jesus, der doch sein Vertrauen auf ihn
gesetzt habe, habe er nicht gerettet. Das Fazit daraus
ist für Baudelaire: „Petrus verriet den Herrn... und das
ist recht geschehen!“ Denn dieser ungerechte Gott belohne
den „Stamm Abels“ und bestrafe den „Stamm
Kains“ in völliger Willkür. Der eine wachse, der andere
stürbe. Doch schon stünde der Stamm Kains bereit, um
in den Himmel vorzudringen und Gott hinab zur Erde
zu stoßen – ein Umwertungsmotiv, das bei Huysmans
und Nietzsche wiederbegegnen wird.

Baudelaire protestierte mit seinen „Fleurs du Mal“
gegen die bürgerlichen Begriffe von Ordnung und Wert.
Seine Figuren des hl. Petrus, sein Kain und sein Satan/
Luzifer sind keine antichristlichen Figuren im strengen
Sinn: Sie sind Allegorien eines Protestes mit sozialevolutionärem
Impetus, die nicht auf einen Umsturz
hinzuwirken suchen, der über die literarische Ebene
hinausgeht. Sie wollen auf eine Korrektur der bestehenden
Gesellschaft hinwirken, ohne diese abzuschaffen,
so Walter Benjamin († 1940).

Joris-Karl Huysmans: Là-bas (1891)

„Tief unten“ (Là-bas) betitelte der französische, „als
frommer Christ im Schoße der Kirche gestorbene“
Schriftsteller Huysmans seinen Bestseller, der im antimodernen,
okkultistischen und katholischen Milieu
des Pariser Fin de Siècle spielt. Der Schriftsteller Durtal,
eine autobiographisch angelegte Gestalt, arbeitet
an einer Studie zu Gilles de Rais († 1440), dessen Extreme
im Guten wie im Bösen ihn faszinieren. Gilles
stellt einen krassen Gegenpol zu Durtals langweiliger
Gegenwart dar. Durtal stößt in diesem Zusammenhang
auf einen satanistischen Zirkel, der ihn schließlich, als
Höhepunkt des Romans, zu einer „Schwarzen Messe“
zulässt.

Die Schwarze Messe stellt eine Konfiguration der
hl. Messe dar, die sie in pervertierter Form reproduziert;
keine kreative Gegenwelt, sondern eine Negation
ihres Vorbildes, der leibhaftigen Gegenwart Christi
in der Hostie. In der Inversion des hl. Ritus durch die
Schwarze Messe wird dagegen der Satan angerufen als
Unterstützer des Rausches, aber auch als Gegenbild
zu einem Gott, der die Banken und die Geschäfte der
Gewinner der Moderne beschützt. Folgerichtig endet
der Predigtteil der „Messe“ mit einem Plädoyer für die
Beseitigung des sozialen Unrechts. Satan als Sinnbild
des Leidens wird zur Symbolfigur dieses Kampfes für
die Armen erhoben, während Christus als Gott der Gewinner
im eigentlichen Ritual verhöhnt und geschändet
wird. Im Laufe der Messe gibt sich Durtal selbst
dazu her, vom Geschehen angewidert und fasziniert
zugleich, auf einer geweihten Hostie liegend mit seiner
Geliebten zu kopulieren.

»Baudelaire protestierte mit seinen „Fleurs du Mal“ gegen
die bürgerlichen Begriffe von Ordnung und Wert.«

Andreas Matena

Die dichterische Gestalt des Satans diente Huysmans
als Antwort auf die gesellschaftlichen Missstände
der materialistischen Gesellschaft wie ihres ideologischen
Überbaus. So empört sich die Figur des Durtal
über die Verantwortungslosigkeit weiter Teile eines
mittelmäßigen Klerus gegenüber den Unterprivilegierten
wie über die Flachheit eines Katholizismus, der
aus Christus einen Gott der Reichen gemacht habe. Als
glaubwürdiges Bild gilt ihm der zerschlagene und geschundene
Christus des sog. Isenheimer Altars (1512-
1516): „Dieser Christus im Starrkrampf war nicht der
Christus der Reichen, der galiläische Adonis, der gepflegte
gesunde Schönling [...]. Es war der Christus der
Armen, er, der sich den Elendsten gleichgestellt, zu deren
Erlösung er kam [...].“ Diesen Christus kann Durtal
in seiner Gegenwart jedoch nicht mehr entdecken. Die
Satanisten demaskieren Christus als Verbündeten der
Reichen und als Vertröster gegen das in seinem Namen
angerichtete Elend. Das Böse, verkörpert in der Figur
des Satans, wird so zu einem Verteidiger der Verlierer,
zu einem Anwalt der Unterdrückten gegenüber einem
Christus, der durch seine nicht eingetretenen Heilsversprechungen
die Menschheit getäuscht habe. In
diesem Sinne stellt Huysmans den Satan nicht nur als
Anti-Christ dar, sondern als eigentlichen Christus, der das Dogma und die Moral der Kirche kritisiert und sie
auf ihre Ursprünge zurückverweist. In der Schwarzen
Messe, im rauschhaften, ekstatischen Kopulieren feiert
die Ritualgemeinschaft Satan / Lucifer als Herr eines
Lebens, das in den dionysischen Rausch des Lustvollen,
gleich ob Gut oder Böse, stürzt.

Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (1895)

„Wollen Sie einen neuen Namen für mich? Die Kirchensprache
hat einen: Ich bin – der Antichrist.“ So schrieb
es Friedrich Nietzsche († 1900) in einem Brief von Ende
März 1883. In zahlreichen Schriften entwirft er eine
Philosophie der Umwertung aller Werte. Das Böse stellt
für ihn das Ergebnis eines historischen Prozesses dar.
Dabei verpackt Nietzsche seine moralischen Provokationen
in die Ästhetik der Schilderung einer archaisch-
„barbarischen“ Frühgesellschaft, die frei ist von den
Konvenienzen der Moderne: Das sog. Gute setzt Übereinstimmungen,
die dem Gemeinwohl dienen, das Böse
dagegen stellt den Impuls dar, diese als kontingent zu
entlarven. So konnte Nietzsche an Baudelaire das „Satanische“
loben, insofern es diese Umwertung in poetische
Formen brachte. Dementsprechend meint der negativ
konnotierte Begriff der décadence bei Nietzsche
auch den Verfall des Willens zum Leben durch das Programm
der Askese und des Mitleids: Die Moral verneint
das Leben, indem sie die Selbsterhaltung unter den
Generalverdacht der Rücksichtslosigkeit stellt. Sie ist
eine „Sklavenmoral“, die eine Reaktion gegen die Kraft
der „Vornehmen“ ist, eine Verschwörung der Schwachen
und Lebensunwerten gegen das Leben. Der Mensch
solle durch die überspannten Moralvorstellungen des
Christentums in der Sünde gehalten werden.

Bei Nietzsche ist es der Exzess, verkörpert in der
Figur des Antichristen / Dionysos, durch den sich das
ursprüngliche Leben zur Geltung bringt; nur sind sie
bei ihm nicht ein Gegenentwurf zur Moral, sondern
das eigentlich Ursprüngliche, kein Akt der Negation,
sondern der eigentliche Sinn des sich selbst feiernden
Lebens. Folgerichtig müsse der Mensch zum Bösen
erzogen werden. Das sei die Umwertung aller Werte,
wie sie Nietzsche im „Antichrist“ kurz fasst: „Was ist
gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur
Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. [...] Was
ist schändlicher als irgendein Laster? – Das Mitleiden
der Tat mit allen Mißratenen und Schwachen – das
Christentum. [...] Das Christentum [...] hat ein Ideal aus
dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des
starken Lebens gemacht [...].“

Dabei geht es Nietzsche trotz seines Amoklaufes
gegen das Christentum doch nicht einfach um dessen
Destruktion. Er hat einige seiner Briefe gar mit „Der
Gekreuzigte“ unterschrieben und erhebt damit letztlich
den Anspruch, der einzig wahre Christ zu sein –
ein Phänomen, das mehr der Satansgestalt der décadence
entspricht als dem biblischen Antichristen: „Der
gute Gott, ebenso wie der Teufel: Beide Ausgeburten
der décadence“, schreibt er. Gelegentlich scheint sich
Nietzsche gar bewusst zu sein, das Christentum auf
seinen angeblichen Kern zurückzuführen: „Das echte,
das ursprüngliche Christentum wird zu allen Zeiten
möglich sein. [...] Nicht ein Glaube, sondern ein Tun, ein
Vieles-nicht-Tun vor allem, ein andres Sein.“ Er wirft
dem Christentum, vor allem aber Paulus, vor, aus dem
eigentlichen Jesus eine grobe „Wundertäter- und Erlöser-
Fabel“ gemacht zu haben, der doch in Wirklichkeit
„das leibhaftige Evangelium der Liebe“ sei. Jesus habe
dem Menschen die Botschaft gebracht und vorgelebt,
dass es keine „Kluft zwischen Gott und Mensch“ gäbe:
Die Einheit von Gott und Mensch sei der Normalzustand,
sei die frohe Botschaft. Im „Antichrist“ dekretiert
Nietzsche daher, es habe nur „einen Christen“ gegeben,
„und der starb am Kreuz [...] Er starb für seine
Schuld – es fehlt jeder Grund dafür, sooft es auch behauptet
worden ist, daß er für die Schuld andrer starb.
[...] Was mit dem Evangelium abgetan war, das war das
Judentum der Begriffe ‚Sünde‘, ‚Vergebung der Sünde‘[...].“
Mit der Dogmatisierung der Göttlichkeit Jesu
seit Paulus habe das Christentum seinen Kern verraten
und ebenjene Sklavenmoral („das Dysangelium“) aufgerichtet,
die Nietzsche zu zerstören suchte; zu sehr
sei den Jüngern und Paulus das Kreuz als Paradoxie
erschienen, so dass sie das Kreuz durch eine Religion
des Ressentiments, der Komplexe und der Rache am
Leben hätten kompensieren müssen: „Gott zum Widerspruch
des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung
und ewiges Ja zu sein.“ Gegen dieses Christentum
konnte Nietzsche in „Ecce homo“ (1888/89) das Credo
seiner antichristlichen Christologie schreiben: „Ich
widerspreche, wie nie widersprochen worden ist, und
ich bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes.“ Nietzsche als Antichrist wird zu einem Lehrer
der Nachfolge Christi und zum Propheten einer neuen
Möglichkeit des Christentums, dem er mit dem Gedanken
der leibhaftigen Präsenz Gottes unter den Menschen
das Herzstück herausgebrochen hat. Die eigentliche
Wertschätzung des Menschen durch Gott in der
Inkarnation und den Schutz dieses wertvollen Gutes
durch eine der Offenbarung Gottes entsprechende Moral
scheint Nietzsche nicht verstanden zu haben.

Der Anti-Christ

„In Satans Namen hat Nietzsche die Umwerthung aller
Werthe gelehrt.“ (Stanislaw Przybyszewski, † 1927). Die
décadence hat die miltonsche Satansfigur aufgegriffen
und aus ihr einen literarischen Anti-Christ gemacht.
Er ist derjenige, der seinen Anhängern die individuelle
Ekstase und den Rausch schenkt, das mitleidlose
Ausleben jeglichen Affekts jenseits von Gut und Böse,
der Herr der Sünde. Doch ist er zugleich der Gegenspieler
eines Christus, der auf der Seite der Herrschenden
steht als Gott der Banken, der die Armen, denen er die
Erlösung versprochen hatte, vergessen hat. Statt der
eschatologischen Erlösung durch Christus tröstet diese
nun der ekstatische Lebensgenuss, den der Satan als
seine „antichristliche Erlösung“ anbietet. Durch dieses
Angebot wird er zum Anti-Christ, der dem Wehrlosen
und Entrechteten dort Hilfe verschafft, wo es Christus
nicht zu vermögen scheint.