Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Dem Flüchtling literarisch ein Gesicht geben

Kinder- und Jugendbücher geben Flüchtlingen eine narrative Identität und können für ihr schweres Schicksal sensibilisieren.

Biblische Theologie entspringt aus Fluchtgeschichten

In Piano Gatta am Rande der südsizilianischen Stadt Agrigento befindet sich der sogenannte „Friedhof der Namenlosen“. Dort werden die Leichen von Flüchtlingen bestattet, die von der Marine nur noch tot geborgen werden konnten. Weil niemand ihre Herkunft, ihre Geschichte oder ihre Namen kennt, stehen auf den einfachen Holzkreuzen nur Nummern. Ein Sinnbild für das Fluchtschicksal tausender Menschen unserer Zeit. Aktuell werden wir mit einer Flut von Berichten über Flüchtlinge konfrontiert, namenlos und unnahbar durch die schier unvorstellbare Zahl. Nach dem Bericht des UNHCR sind weltweit fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als 40 000 täglich verlassen ihr Zuhause, der größte Teil kommt aus Syrien, Afghanistan, Somalia, dem Sudan, dem Kongo und der Zentralafrikanischen Republik.

Die biblische Theologie indes weist in eine ganz andere Richtung. Hier werden Geschichten von Menschen bewahrt, die Namen haben wie Abraham, Mose und Rut. Es wird ihr Schicksal erzählend verarbeitet und als Glaubensgeschichte gedeutet – und genau so entsteht Theologie. Biblische Theologie ist kollektive, erzählte Erinnerung. Und das mag vielleicht überraschen: Sie entspringt aus Fluchtgeschichten. Grundlegend ist der Exodus, die Geschichte der Flucht der Israeliten aus Ägypten, mit Joseph liest man über einen Flüchtling, der es in der Fremde zu Ehre und Anerkennung gebracht hat, und die Davidgeschichte beginnt im Buch Rut mit der Geschichte einer Familie, die vor einer Hungersnot flieht und dann die Fremde in die alte Heimat zurückbringt. Nach Matthäus flieht auch Jesus mit Maria und Joseph vor dem Kindermord in Bethlehem. Oft liegt die Flucht vor etwas nahe bei der Hoffnung, durch den Aufbruch etwas Neues zu finden, wie zum Beispiel in der Abrahamsgeschichte. Immer geht es um die Frage, ob und wie die Menschen auf der Flucht Gottes Beistand oder auch Abstand erleben.

Religionspädagogisch kann dieser Faden der theo-
logischen Verarbeitung von Fluchtgeschichten aufgenommen werden. Als Basis können literarische Darstellungen in Kinder- und Jugendbüchern dienen. Sie nähern sich dem Thema nicht über Zahlen, sondern geben den Flüchtlingen ein Gesicht, so dass für Kinder und Jugendliche über personalisierte Erfahrungen die Möglichkeit zur Wirklichkeitserschließung und Erfahrungserweiterung besteht. Literatur wird damit zum „Anwalt der Subjektivität“, ermöglicht Empathie und Verständnis und lädt zur ethischen und religionsdidaktischen Weiterarbeit ein.

Das Thema Flucht wird in den Neuerscheinungen der letzten fünf bis zehn Jahre meist über Erzählungen aus afrikanischen oder asiatischen Kontexten aufbereitet, Flucht spielt aber weiterhin in Büchern über den Zweiten Weltkrieg und die ehemalige DDR eine Rolle. Dabei werden entweder der Fluchtweg oder das Thema Fremdsein und schwierige Lebensbedingungen in der neuen Heimat fokussiert und teilweise mit weiteren Rahmenthemen, z.B. einer Liebes- oder Kriminalgeschichte, verschränkt. Wir finden hier vom Bilderbuch über Graphic Novels, Kinderbücher, journalistisch und medial interessant aufbereitete Einzelschicksale4 und Romane für Jugendliche unterschiedlichen Alters verschiedene Gattungen, die auch für religionspädagogische Bildungsprozesse hilfreich sein können. Je nach thematischer Präferenz kann literarisch durch Bilder oder Texte bzw. Textausschnitte vertieft und didaktisch aufbereitet werden, warum Menschen ihre Heimat verlassen, was sie auf der Flucht erleben, wie Fremdsein sich anfühlt, welche Probleme im Neuanfang liegen und wie Flüchtlingen (sinnvoll) geholfen wird bzw. werden kann.

Bilderbücher

Eine universelle Geschichte vom Fremdsein nach der Flucht erzählen die in Australien lebende Autorin Irena Kobald und die Illustratorin Freya Blackwood in ihrem Bilderbuch Zuhause kann überall sein (Knesebeck, 4. Aufl. München 2015). Das erste Bild lässt auf einen afrikanischen Kontext mit Hütten und grasenden Ziegen schließen, auf dem in warmen Farben ein Kind beim ausgelassenen Radschlagen zu sehen ist. Die gleichen Farben hat dann die Decke, in die das Kind sich einkuschelt, wenn es später einsam an die verlassene Heimat denkt. Schon auf dem zweiten Bild aber wird das zentrale Thema, das im Titel selbst nicht wirklich eingeholt wird, nämlich das Empfinden von Fremdsein in Wort und Illustration, verdeutlicht: „Die Leute waren fremd. Das Essen war fremd. Die Tiere und Pflanzen waren fremd. Sogar der Wind fühlte sich fremd an. Niemand sprach so wie ich. Wenn ich auf die Straße ging, fühlte es sich an, als stünde ich unter einem Wasserfall aus fremden Wörtern. (…) Es war, als wäre ich nicht mehr ich.“ Wie Fremdes durch eine kleine Freundin, eine Fremdenführerin, vertraut werden kann, bewegt beim (Vor-)Lesen. Hier kann z.B. Religionsunterricht mimetisch ansetzen.

Beeindruckend zur gleichen Thematik, aber stärker auf die Flucht selbst bezogen, ist das 2014 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis und mit dem katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnete Buch von Claude K. Dubois, Akim rennt (Moritz Verlag, 5. Aufl. Frankfurt/M. 2016). Mit sehr sparsamem Text und Bildern in grauen, beklemmend wirkenden Bleistiftskizzen wird die Zerstörung des Dorfes beschrieben, in dem der kleine Akim wohnte und bei der wohl auch ein Teil seiner Familie getötet wird. Eine fremde Frau kümmert sich um ihn, bis ihn Soldaten, für die er anschließend arbeiten muss, nach drei Tagen mitnehmen. Einen Angriff nutzt er zur Flucht und schließt sich einer Gruppe von Flüchtlingen an, die nach langen Wanderungen schließlich von einer Hilfsorganisation in ein Flüchtlingslager gebracht wird. Auch dort hat er furchtbar Heimweh und kann traumatisiert nicht mit den anderen Kindern spielen. Dann passiert ein Wunder: Er findet seine Mutter wieder.

Fast schon als Klassiker einer Fluchtgeschichte mit parabel- und märchenhaften Zügen kann das Bilderbuch der bekannten Illustratorin und Autorin Annegret Fuchshuber mit dem Titel Karlinchen (Betz Verlag, Wien 1995/2001) bezeichnet werden. Die ernsthafte und in ihren eindringlichen, düsteren, surrealistisch-expressionistischen Bildern anspruchsvolle Geschichte erzählt von dem Mädchen Karlinchen, das aus seiner brennenden Heimat fliehen muss, die nicht näher charakterisiert wird. Weder im Dorf der Steinbeißer noch in dem der Seidenschwänze, der Nebelkrähen oder der reichen Schaffraffer darf sie bleiben. Nur der Narr heißt sie schließlich in seinem Baumhaus willkommen und gibt ihr zu essen. Hier bietet der sprachlich-bildhafte Ansatz viel Interpretationspotenzial, um z.B. den Gründen der Ablehnung nachzugehen.

Kinderbücher

Ganz real dagegen erzählt Kirsten Boie mit Bildern von Jan Birck die wahre Geschichte von Rahaf und Hassan in Bestimmt wird alles gut (Klett Verlag, 3. Aufl. Leipzig 2016). Die beiden Kinder mussten aus der syrischen Stadt Homs fliehen und leben jetzt in Deutschland. Damit Flüchtlingskinder ihre Geschichte lesen können, ist sie zweisprachig abgedruckt. Die Angst der Kinder durch den Krieg auf der Straße und die Luftangriffe wird hier eindrücklich als Grund für die Flucht der Familie dargestellt, aber auch der kindliche Widerstand und ihr Wunsch, trotz der Angst lieber bei der Großfamilie zu bleiben. Auf der Flucht in einem viel zu kleinen Boot nach Italien lassen die Schleuser alles Gepäck der Familie zurück, auch die Rucksäcke mit den Schätzen der Kinder. Auf dem Boot ist es kalt und es gibt zu wenig Essen und Trinken. Im Zug nach Deutschland begegnen sie dann freundlichen und unfreundlichen Menschen. Gut wird alles erst, als Rahaf in ihrer Klasse Emma begegnet, mit ihrer Hilfe langsam Deutsch lernt und sich damit ihre Welt erschließen kann. Nur das Heimweh der Eltern und deren Wunsch, arbeiten zu können, trüben als ethischer Appell den Ausgang der Handlung. Hier könnte weiter nachgefragt und Zustände kritisch reflektiert werden.
Sprachlosigkeit ist auch ein Aspekt des großen Themas „Flüchtlinge“, der auch in Uticha Marmons Buch Mein Freund Salim (Magellan Verlag, Bamberg 2015) eine Rolle spielt. Durch den Ich-Erzähler Hannes und seine kleine Schwester Tammi lernt der Leser Salim kennen, der plötzlich auf einem Spielplatz auftaucht, kein Deutsch spricht und seltsamerweise nicht in die Schule zu gehen scheint. Erst langsam setzt sich durch Salims gemalte Bilder seine Geschichte als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling zusammen. Er muss sich ganz allein in einer für ihn völlig fremden Welt orientieren und behaupten, weil er das Wichtigste auf seiner Flucht verloren hat: seine Familie. Gerade für Grundschulkinder kann im Gewand einer spannenden Kriminalgeschichte (Vorbereitungsmaterial für ein Gruselkabinett verschwindet) die Situation von Flüchtlingskindern veranschaulicht werden – so sagt Hannes: „Der Grund dafür, dass Salim meistens nicht lachte, war keine Mauer. Das war in Wirklichkeit ein tiefes schwarzes Loch, in dem sich all das gesammelt hatte, was er uns nicht erzählen konnte.“ Manche Fragen aus dem Buch wie „Ist es (…) dasselbe, ob man etwas klaut, weil man Hunger hat, oder ob man es einfach so tut?“ können unterrichtlich weitergeführt werden.

Wie bedeutsam im Prozess der Eingewöhnung die eigene Muttersprache ist und was eine Muttersprache überhaupt bedeutet, wird im Kinderbuch von Tine Schulz und Anja Tuckermann mit dem Titel Alle da! Unser kunterbuntes Leben (Klett Verlag, Stuttgart 2014) thematisiert. Im Mittelpunkt allerdings steht hier das Zusammenleben verschiedener Nationen und Kulturen. Deshalb geht es tatsächlich kunterbunt zu, wie der Titel verspricht. Die Migrantengeschichten, die den Kindern gemeinsam sind, integrieren auch deren Schwierigkeiten wie auseinandergerissene Familien, Visaprobleme etc., gehen aber weit darüber hinaus. Ein wirklich origineller Zugang, der auch als Baustein unabhängig einsetzbar ist, besteht darin, von einem kunterbunten Stammbaum der Menschheit auszugehen, aus dem hervorgeht, dass alle menschlichen Wurzeln irgendwo in Afrika liegen, wir also alle irgendwie Flüchtlinge sind.

Ingeborg K. Halds Romandebüt Vielleicht dürfen wir bleiben (Carlsen Verlag, Hamburg 2015) stellt die Gegenwart und nicht die Fluchterfahrungen ins Zentrum, diese ist aber durch die Angst vor der Abschiebung bestimmt. Der Roman bezieht sich auf einen Krieg, der schon fast wieder vergessen ist: der Jugoslawienkrieg (bzw. Bosnienkrieg) 1992-1995. Auf dem Cover sieht man einen verschüchterten Jungen, der vorsichtig und ängstlich hinter einer Gardine hervorschaut. Nach der Lektüre mag man damit den Protagonisten Albin Prek identifizieren, der mit seiner Mutter Dhina und seinen jüngeren Zwillingsschwes-
tern Anja und Anka aus Bosnien nach Norwegen geflohen ist. Im Krieg wurde sein Vater vor seinen Augen erschossen; er ist dabei, als ein Säugling getötet wird, nur weil sein Schreien die Soldaten belästigt. Noch Jahre nach den tatsächlichen Ereignissen von Krieg und Terror und in einer Situation der scheinbaren Sicherheit ist sein Leben davon bestimmt und lässt kaum Raum für seine Zukunft. Als der Familie fünf Jahre nach ihrer Ankunft die Abschiebung droht, beschließt Albin im Glauben, damit die Abschiebung der Mutter und der Schwestern verhindern zu können, wegzulaufen. Er schließt sich zwei Kindern an, die auf dem Weg zu ihren Großeltern sind, und versteckt sich dort in deren Nähe. Bald wird er gefunden und zurückgebracht. Schlussendlich stellt sich heraus, dass der Ausweisungsbescheid möglicherweise auf Grund falscher Voraussetzungen erteilt wurde und zurückgenommen wird. Hier steht also die allgegenwärtige Angst literarisch im Zentrum, dass durch Abschiebung oder Rückführung die gerade so mühsam gewonnene Heimat wieder aufgegeben werden muss, denn Kindern nur geduldeter Flüchtlingen wird die alte Heimat im Prozess ihrer Entwicklung schnell zur neuen Fremde.

Graphic Novels und Comics

Erstaunlicherweise finden sich verschiedene Versuche, das Thema Flucht in Form von Graphic Novels darzustellen. Unsichtbare Hände des Finnen Ville Tietäväinens (Avant Verlag, Berlin 2014) ist eine eindrucksvolle „Reise ins Reich der leeren Versprechen“.6 Die künstlerische Umsetzung, an der der Autor fünf Jahre lang gearbeitet hat, wurde in Finnland mit dem höchs-ten Kulturpreis des Landes ausgezeichnet. Auf 215 großformatigen Seiten wird die Geschichte von Rashid erzählt, der in einer marokkanischen Küstenstadt gerade so als Näher durchkommt. Da seine Frau unglücklich, die kleine Tochter krank ist und nur wenige Dutzend Kilometer entfernt das Glück versprechende Europa winkt, will Rashid seines eigenen Glückes Schmied werden. In düsteren Farben wird Rashids Flucht geschildert. Hier wird vor allem die Menschenverachtung der Schlepper herausgestellt, die in ihrer Skrupellosigkeit nur die beschützen, die sich verschuldet haben oder Drogen transportieren. Besonders macht das Buch der spezifische Blick auf die Positionen und Meinungen unter den Marokkanern über die Verheißungen Europas, die immer wieder in die Handlung verwoben sind. Hier kann man zur Frage der weltweiten Gerechtigkeit didaktisch weiterarbeiten.

Zeina Abiracheds Graphic Novel Das Spiel der Schwalben, aus dem Französischen von Paula Bulling und Tashy Endres (Avant Verlag, Berlin 2013), verwendet wenig Sprache, um viel auszudrücken. Sie veranschaulicht den Krieg in einfachen Bildern mit Hang zum Ornamentalen. Vorherrschend ist ausschließlich die kindlich unreflektierte Perspektive mitten im libanesischen Bürgerkrieg in Beirut (1984). Der Krieg bestimmt den Alltag, lässt aber dennoch ein Gefühl der Sicherheit zu, weil das Leben irgendwie weitergehen muss, und veranschaulicht, an welche Schwierigkeiten und an welches Leid Menschen sich gewöhnen können.

In Shaun Tans Graphic Novel Neues Land (Carlsen Verlag, Hamburg 2014) werden in sechs Kapiteln Stationen einer Auswanderung erzählt, die historisch und geografisch unbestimmt bleibt: Ein Mann verabschiedet sich von seiner Familie, bricht mit dem Schiff in ein neues Land auf, erlebt die Schwierigkeiten der Eingewöhnung und ist am Ende wieder mit seinen Lieben vereint. Tans Bilder sind universell verständlich und gleichen vergilbten Schwarz-Weiß-Fotografien in einem Fotoalbum, anhand derer man seine Geschichte nacherzählen, die typischen Probleme und Missverständnisse im neuen Land benennen und Hoffnungen verbalisieren kann.

Gerade lesefaule Jugendliche werden durch die Graphic Novels angesprochen; einzelne Aspekte wie Fremdheit, Missverständnisse, Heimweh, etc. können in einzelnen Bildelementen separat in didaktischen Zusammenhängen herausgegriffen werden.

Jugendbücher

Kinshasa Dreams von Anna Kuschnarowa (Beltz und Gelberg, Weinheim 2012) thematisiert das Flüchtlingsschicksal eines jugendlichen Protagonisten. Die Erzählung setzt fast zu Beginn mit der Beschreibung der Hauptperson
Jengo vor einem entscheidenden Boxkampf in Europa ein und erzählt die Vor- und Nachgeschichte. Als Einleitung in einzelne Kapitel werden fett gedruckte Ausschnitte aus einem Interview, das ein Reporter mit dem angehenden Boxstar führt, vorangestellt. Somit ist von Anfang an klar, dass Jengo es nach Europa schaffen wird und dort weiterhin erfolgreich boxt. Anrührend ist umso mehr seine schwierige Zeit im Kongo, die Ablehnung der Großmutter, die glaubt, dass er verhext sei, der Tod seines Vater, die psychische Erkrankung und die Flucht der Mutter allein nach Europa, das verhasste Leben beim autoritären Onkel und schließlich die Flucht von dort, um einer Dämonenaustreibung zu entgehen. Die Schilderung des langwierigen und problematischen Fluchtwegs über Kairo nach Paris und des Lebens im illegalen Lager fesselt den Leser, der von Anfang an vom guten Ende weiß und dennoch beim Lesen mitfühlt.

Eine ähnliche Fluchtgeschichte aus Somalia wird von Robert Klement in 70 Meilen zum Paradies (Verlag Jungbrunnen, 5. Aufl. Wien 2015) erzählt. Der Roman wurde ausgezeichnet mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2007 und zeigt die schon recht frühzeitige Beschäftigung mit dem brisanten Thema. Shara und ihr Vater Siad sind auf der Flucht vor dem Krieg in Somalia, in dem Sharas Mutter und ihre Schwester getötet wurden. Sie wollen ins Paradies Europa, über das sich die Flüchtlinge und noch mehr die Schlepper die wunderbarsten Geschichten erzählen. Für die kräftezehrende und gefährliche Fahrt durch die Sahara und von Tunesien nach Lampedusa bezahlt Siad sein ganzes Jahresgehalt als Krankenpfleger. Die achttägige Überfahrt auf einem klapprigen Schrottkahn mit 15-PS-Außenbordmotor und ohne kompetenten Kapitän entwickelt sich zu einem lebensgefährlichen Abenteuer. In dieser Situation verliebt sich Shara in Stany, einen Studenten aus Nigeria. In Lampedusa sind die Zustände völlig anders, als die beiden sich ausgemalt hatten; nur mühsam finden sie in ein neues Leben, das so ganz anders ist als ihre Hoffnungsbilder eines paradiesischen Europa. Auf seiner Homepage beschreibt Robert Klement seine Erfahrungen bei den Recherchen: „Für diesen Roman habe ich mit zahlreichen afrikanischen Bootsflüchtlingen gesprochen, die mir ihre Schicksale erzählten (…). Besonders berührt hat mich der Friedhof der Namenlosen. Hier werden die ertrunkenen Bootsflüchtlinge begraben. Auf den Holzkreuzen stehen Nummern statt Namen, denn niemand weiß, wie die Toten heißen und woher sie kamen.“

Gräber der Namenlosen gibt es aber nicht nur heute, sondern auch schon zur Zeit der Weltkriege. Auf geschickte Weise verbindet der Roman Das Schicksal der Sterne des Autors Daniel Höra (Bloomoon Verlag, München 2015) Erfahrungen von Flüchtlingen gestern und heute und verwebt sogar die Flucht-
erfahrungen von zwei Kulturen und Generationen: Der Protagonist Karl hat in seiner Kindheit die Vertreibung aus Schlesien erlebt und diese Erfahrungen holen ihn immer wieder ein. Durch Zufall begegnet er in Berlin dem jungen afghanischen Flüchtling Adib und in Rückblenden wird von beiden Fluchtgeschichten erzählt. Dabei werden die typischen Existenzbedrohungen jeder Flucht wie Hunger, Gewalt, Lebensangst, Krankheit, das Gefühl der völligen Verlassenheit, die Erfahrung von Ablehnung und Feindschaft u.a. besonders deutlich: „Ob das nun vor 70 Jahren geschehen ist oder heute, das ist völlig egal, und es wird in 100 Jahren immer noch so sein.“

Während bei den oben erwähnten Büchern die Leserinnen und Leser die Fluchtgeschichte teilweise nur im Rückblick erfahren bzw. andere Aspekte wie das Gefühl der Fremdheit im Zentrum sind, steht man im Jugendbuch Jenseits der blauen Grenze von Dorit Linke (Magellan Verlag, Bamberg 2014) neben den Protagonisten Hannah und Andreas, die ihre Planungen der Flucht aus der DDR über die Ostsee umsetzen und dabei fast ertrinken. Die Flucht liegt 30 Jahre zurück und spielt kurz vor dem Mauerfall. Dabei wird über die DDR, die Situation von Überwachung, Unterdrückung und Repression erzählt. Gerade für die jungen Leserinnen und Leser wird aber nicht wirklich nachvollziehbar, warum die beiden Menschen ihr Leben riskieren, um dem System zu entkommen. Die geschilderten Erfahrungen scheinen im Vergleich mit den Berichten aus Schlesien, Afghanistan oder Afrika fast harmlos, ja, es könnte gar die Frage kritisch diskutiert werden, ob hier tatsächlich berechtigte (Asyl-)Gründe vorliegen. Dies zeigt aber andererseits deutlich, wie sehr Unfreiheit und Perspektivlosigkeit das Leben beeinträchtigen und dazu führen können, das eigene Leben für eine ersehnte neue Existenz aufs Spiel zu setzen, selbst wenn man nicht in Lebensgefahr ist.

Resümee

Ob die vorgestellten Bücher zu schwere Kost für Kinderseelen sind8, ob sie die Wirklichkeit produktiv spiegeln und zum Handeln auffordern9 und wie man mit ihnen methodisch sinnvoll arbeitet, gilt es im Einzelfall zu prüfen. Der Wert der Bücher liegt zweifellos darin, dass die literarisch aufbereiteten Biographien Kinder und Jugendliche ansprechen, weil der Flüchtling einen Namen und ein Gesicht bekommt. So wird eine Zahl zu einem menschlichen Gegenüber, weil sich dem Lesenden eine Lebensgeschichte erschließt. Einer der vielen Namenlosen aus Zeitung und Fernsehen hat eine narrative Identität, die Verstehen und Mitgefühl erst möglich macht.10 Zwar bieten die vorgestellten Bücher wenig Anknüpfungspunkte für eine theologische Verarbeitung der Schicksale; gleichwohl sind Fragen nach Theodizee, Bewahrung und Hoffnung, sozialer Gerechtigkeit und Ethik allgegenwärtig und können religionspädagogisch vertieft werden.