Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
(c) Matthias Cameran

Körper und Gebiet oder die Kartierung des Selbst

Die Haut stellt das Material für jene Kunst dar, die man heute lapidar Tätowierung nennt. Eine Kunst, die unter die Haut geht und an ihrer Oberfläche zum Ausdruck kommt

Ist der Körper das ultimative Gebiet der Auseinandersetzung
mit dem Selbst? Von der Ernährung,
Gesundheit und Krankheit, über die Optimierung,
Verwundung, Vernarbung und Schändung, bis hin zur
Ausschmückung, Einkleidung und Kostümierung –
der Körper ist der Ort intimster Selbst- und Fremdbeziehung,
ist die alternde, mit etwas Hilfe sich manchmal
verjüngende, auch utopische Anatomie des Selbst.
Er ist Hülle und Innerei, das Getriebe und die Projektionsfläche
aller Bewegungen, Gesten, Erregungen
und Gebärden des Selbst. In diesem Beitrag bleibe ich
allerdings an der Oberfläche des Selbst, um es genau
zu sagen: bei der Haut und ihrer projektiven Kraft als
Material in jener Kunst, die man heute lapidar die Tätowierung
nennt.

Gedächtnispigmente. Eine kurze Fallstudie

Am Oberarm, über die Schulter hin: Ein Motorradreifen,
darin wie in einem Medaillon anstatt Felgen ein
Ziffernblatt, daneben im Halbprofil eine barocke Gottesmutter
mit Schleier. Eine Frau ist mit Freunden mit
dem Motorrad unterwegs. Der Ausflugstag war ohnehin
etwas trüb, spät im Herbst. Die Ausflügler wollen
vor der Dämmerung nach Hause kommen. Die Gruppe
fährt zu schnell. Als sie sich in die Kurve legt, übersieht
sie das glitschige Laub, das Fahrzeug rutscht weg. Sie
stürzt und rutscht mit der Maschine den Hang hinab.
Rettungshubschrauber, künstliches Koma, aber durch
etwas Glück und ausgezeichnete Ärzte überlebt sie
und ist nach zwei Jahren fast vollständig wiederhergestellt.
Was bleibt, sind Narben. Was bleibt, ist die
Unfähigkeit, die Angst abzuschütteln. Als sie über die
Narbe an Arm und Schulter eine Tätowierung stechen
lassen will, wählt sie dieses Motiv. Für sie symbolisiert
es ihre Leidenschaft, das Motorradfahren, das
sie nach der Tätowierung wieder aufnehmen will, die
Vergänglichkeit des Lebens, aber auch Dankbarkeit,
die sie nicht am Glück, sondern an göttlichem Beistand
festmacht. Sie will nicht ihre Verwundung und
Narbe zeigen, wenn jemand auf ihren Körper blickt,
sondern das, was sie daraus gemacht hat: Die Beziehungen,
die sie zu sich selbst, zu ihrem Leben, zu ihrem
Hobby, zu ihrem Gottesglauben hergestellt hat.
Anderswo hat sie die Namen ihrer Eltern eintätowiert,
ihr Vater war während ihrer Kindheit frühverstorben,
ihre Mutter ist altersschwach. Die anderen Tätowierungen,
die sie schon trug, hat sie nach dem Unfall, wo
nötig, ausbessern lassen. Diese Tätowierungen versammeln
Motive, die sie mit dem verbindet, was sie
ausmacht. Grashalme und Schilfrohr am Torso stehen für ihre Liebe zur Natur, für ihren Einsatz
für die Umwelt. Eine Holzkiste, gefüllt mit
CDs, steht für die vielen Umzüge, die sie in
ihrem Leben gemacht hat. Dann gibt es noch
den Namen ihres Freundes und, allerdings
zu einem Grabstein umgestaltet, den Namen
eines Ex-Freundes. Auch ein Bild ihrer Katze
trägt sie immer bei sich auf der Schulter,
außerdem – ihre aufwendigste und teuerste
Tätowierung – eine polychrome Miniatur an
der Wade eines Van Gogh-Gemäldes, dessen
Titel sie vergessen hat, aber das ihr von allen
Malereien immer am besten gefallen hat.
Sie fühlt sich nicht vom Leben gezeichnet,
vielmehr findet sie Zeichen für ihr Leben.
Sooft sie in den Spiegel schaut oder auf ihre
Tätowierungen angesprochen wird, erzählt
sie ihre Geschichten. Ihre Tattoos sind mehr
als Mementos. Wie viele andere Menschen,
die großflächige Tätowierungen tragen, sagt
sie: Sie sei immer mehr sie selbst geworden,
wer sie ist; wenn auch rings umher nicht
alles okay war, konnte sie hier unhintergehbar,
unverlierbar, unvertretbar zeigen, wo
sie war, was gewesen ist, wohin sie will, was
sie glaubt.

»Der Körper wird zu einer des Selbst.
Topographie der
individuellen Idealisierung.«

Paul-Henri Campbell
Sehnsuchtsort Körper

Im deutschsprachigen Raum bestimmt
die Metapher der Wurzel auffällig häufig
den Diskurs um Heimat; auch in der deutschen
Philosophie regiert die rhetorische
„Stammvariation“ und die Wort-Etymologie
manchmal mehr das Denken als das wirklich
überzeugende, weil agile Argument.
Aber Menschen sind keine Baumstämme
am Holzweg, sondern bewegte Schöpfer. Sie
tragen ihre Zeichen und ihre Behausungen
mit sich, eher Schnecke mit Schleimspur
und Zugvogel mit innerem Kompass als angefaultes
Radieschen und wurmige Eiche.
Ihre Heimat ist die Summe der Wege und der
Horizont des Augenlichts. Überbrückt wird das permanente Vagabundieren der Körper
durch das Erzählen, Lunge und Larynx, die
mündliche Veräußerung. Doch was ist schon
eine bloße Geschichte? Die Tätowierung reagiert
auf diese Blöße der Erzählung. Sie ist,
wie alle ikonischen Signale, wandelbarer
und offener als jedes in Sprache gegossenes
Narrativ. Man zeigt darauf und die Erzählung
beginnt – nicht von vorne als Wiederholung,
sondern von neuem als Variation.
Selbst tätowierte Schriftzüge, wie Bibelverse,
Song- oder Gedichtzitate (Lady Gaga
trägt eine kurze Passage aus Rilkes Briefe
an einen jungen Dichter), sind eher symbolische
Ansage als einfach definitive Aussage.
Die britische Tätowier-Legende Alex Binnie
beispielsweise berichtet: „Ich hatte zunehmend
den Eindruck, ich werde immer mehr
so, wie ich mich auch fühle. Je stärker ich
tätowiert worden bin, desto mehr hatte ich
das Gefühl, mein wahres Ich kommt zum
Ausdruck.“

»Tätowierungen sind wandelbarer
und offener als jedes in Sprache
gegossene Narrativ.«

Paul-Henri Campbell

Über diese transformative Wirkung der
Tätowierung auf die Einwohnung der Person
in ihren Körper sagt der in Berlin arbeitende
israelische Tätowierer Chaim Malchev: „Tätowieren
ist eine kraftvolle Angelegenheit.
Was ich sagen will, ist, es erzeugt sehr starke
emotionale Energien … (Meine Kunden)
haben dann auch das Gefühl, dass sie dabei
sind, dass sie Besitz nehmen von dem Prozess.
Ich glaube, das ist essentiell. Es ist nötig,
um das volle Potenzial der Tätowierung
zu erfahren. Es geschieht eine kleine Zeremonie
um diese bewusste Entscheidung. So
hast du die Chance, etwas tief in dir drin
zu berühren. Das ist diese gewaltige Kraft,
die du vielleicht verpassen könntest, wenn
du einfach nur irgendein Seepferdchen oder
Snoopy oder Mickey Mouse vom Tintenstrahldrucker
auf deine Schulter transferieren
lässt.“

Anders als bei klassisch christlichen Tätowierungen,
wie etwa die kroatisch-bosnischen,
eritreischen oder koptischen Kreuzformen,
aber auch die breite Ikonographie
der lauretanischen Tätowierungen, die
durch die Franziskaner und Jesuiten um
die Santa Casa in Loreto einerseits als Pilgerzeichen,
andererseits als lokaler Brauch
gepflegt werden, geht es bei säkulareren Tattoo-
Konzepten darum, den Körper zu einer
Topographie der individuellen Idealisierung
ausdrücklich zu machen, seine Gewichtigkeit,
Ehre und Herrlichkeit visuell unübersehbar
zu machen. Man denke in diesem
Zusammenhang an das, was Martin Buber
im Hinblick auf die alttestamentliche Anthropologie
zur göttlichen kabod notierte:
Sie ist „ausstrahlende und so Erscheinung
werdende Wucht oder Mächtigkeit des Wesens.“
Diese „Wucht oder Mächtigkeit“ ergibt
sich aus der visuellen Verortung der subjektiven
Motive, ihre Komposition und das sich
sukzessive verdichtende Bildprogramm ist
nicht nur ein skulpturaler Comic des Ichs,
sondern Summe der Beziehungen zum historischen
und idealen Selbst, Indices für mögliche
Fremdbezüge und anwesende Spuren
zur potenziellen Gottesbeziehung. So sehr
die Kathedrale mit ihren Malereien, Fresken,
Tapisserien, Skulpturen oder Schmiedearbeiten
die Heilsgeschichte samt ihrer lokalen
Besonderheiten zum erfahrbaren, örtlich
gebundenen Weltbezug vermittelt, so sehr
ist der tätowierte Körper deutungsmächtiges
Bildprogramm der Wirklichkeitsbezüge des Selbst.