Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
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Gott spielt und der Mensch

Das Spiel ist ein menschliches Grundphänomen, das in seiner Gestaltung nicht vielfältiger sein könnte und dem es keineswegs an Ernst fehlt. Stehen wir vielleicht vor einer Rückkehr des Spiels in unserer religiösen Praxis?

Unter Pandemiebedingungen ist der bereits
große weltweite Digital-Games-Markt ‚explodiert‘,
ebenso die mit Computerspielen verbrachte
Zeit. Auch außerhalb des rasant wachsenden
digitalen Feldes ist seit Jahrzehnten ein anhaltender
Spieleboom zu beobachten. Seit 1978 wird die Prämierung
eines (Brett-)»Spiels des Jahres« vergeben. Sie
steht in direktem Verhältnis zum hohen Interesse von
Erwachsenen am anspruchsvollen Strategie-Spiel.
Ist dieser Boom flankiert worden von namhaften
neueren Reflexionen und Publikationen über den
spielenden Menschen? Nein! Eine Stichwortsuche
zum Topos »Spiel« ergibt zwar allein schon in der
Haus-am-Dom-Bibliothek über 550 Treffer. Dass aber
vor allem die Religionspädagogik in den vergangenen
30 Jahren das Spiel als Motto und Masche entdeckt
hat, muss leider keineswegs heißen, dass tatsächlich
eine Rehabilitierung des Spiels als ernsthaftes Genre
der christlichen Theologie stattgefunden hätte. Das
Gegenteil ist der Fall.

Das wäre aber durchaus eine herausfordernde und
keineswegs triviale Aufgabe. Keinesfalls lässt sie sich
auf einem Streifzug durch die Philosophiegeschichte
im Sinne einer Blütenlese erledigen. Denn nahezu
alle Theologen und Philosophen – vor allem in der
Antike – haben sich mit dem Spiel beschäftigt: Bis
heute findet sich die unerreichte Gesamtdarstellung
in Hugo Rahners Büchlein »Der spielende Mensch«.
Hier wurde vor mehr als einem halben Jahrhundert
weit mehr geleistet als nur die Übersetzung des ungefähr
gleichzeitig erschienenen, aber zumindest für
unsere Zwecke nur bedingt ertragreichen Schlüsselwerks
»Homo Ludens« des Kulturwissenschaftlers
avant la léttre, Johan Huizinga, in deutschsprachige
Theologie. Ob Heraklit oder Aristoteles, Clemens von
Alexandrien oder Mechthild von Magdeburg, Walter
Benjamin oder Jacques Derrida, Martin Heidegger
oder Hans-Georg Gadamer – selten haben sie mehr
als Fragmente oder einige Seiten in Großwerken dem
Spiel gewidmet. Eine vom Spiel her gedachte Anthropologie
oder Theologie, gar eine Ontoludologie, wie
sie unerwartet in der jüngeren phänomenologischen
Philosophie gefordert wird, wäre noch zu schreiben.

Phänomenologie des Spiels

Um mich unserer Materie zu nähern, habe ich einmal
versucht, meine eigene Spielerfahrung ins allgemein
verständliche Wort zu bringen, und dabei gleich gemerkt,
dass zwischen den verschiedensten Alltagsgebräuchen
des Spielbegriffs unterschieden und
manches, was wir im Alltag ‚Spiel‘ nennen, ausgegliedert
werden muss, wenn man sich nicht ins Ungenaue
oder Unübersichtliche verzetteln will. Hans-Georg
Gadamer etwa schließt den Wettbewerb mit ein in den
Spieldiskurs, »auch wenn für den Wettkämpfer in seinem
eigenen Bewusstsein nicht gilt, dass er spielt.«
Gleichzeitig soll die häufig strenge Unterscheidung
zwischen Kinder- und Erwachsenenspiel eingeebnet
werden: Wo der Erwachsene wirklich spielt, ist er
Kind, und das Kind spielt im Kern nicht anders (höchstens
»anderes«) als der Erwachsene.

»Das Spiel ist klar von der
Arbeit abzugrenzen,
keineswegs aber vom Ernst«

Joachim Valentin

Klar ist das Spiel abzugrenzen von der Arbeit, keineswegs
aber vom Ernst. Philo von Alexandrien beschreibt
das antike Ideal des im Spiel des Lebens
»ernstheiteren« Menschen so: »Die wahre Weisheit ist
nicht finster und düster, nicht voll Sorge und Bedenklichkeit,
sondern im Gegenteil heiter und freundlich,
voll Frohsinn und Freude.«

Was ist meine Erfahrung des Spiels, also nicht des
sportlichen Wettbewerbs, des konsumierten Schauspiels
oder des »Spiel«-Films, sondern des organisierten,
nicht auf Gewinn oder Selbstdarstellung, sondern
auf zweckfreie Gemeinschaft (in Singleplays Gemeinschaft
mit sich selbst) ausgerichteten Freiraums in
der Zeit?

Vor dem Spiel dominiert oft die Erwartung einer
eher mit Unlust erwarteten Unterbrechung des auf
Nützlichkeit, Bedürfnisbefriedigung, Erfolg und Ertrag
– Arbeit eben – ausgerichteten Alltags – nachher
die Erfahrung einer Befreiung des Selbst und des Miteinanders
der miteinander Spielenden. Offenbar geschieht
im Spiel etwas, das niemand macht, das kein
einzelnes Subjekt intendieren kann, das aber dennoch
alle erleben. Das dabei entstehende Gefühl könnte
beschrieben werden als Getragen-Werden von etwas Drittem – den Regeln des Spiels, aber auch dem Zufall
oder dem ‚Glück im Spiel‘, das sich einem willkürlich
‚zuspielt‘ und wieder verlässt, und der Bereitschaft
aller, in der Runde ‚mitzuspielen‘ und keine ‚Spielverderber‘
zu sein. Spiel in diesem engen Sinne meint
also Interaktion zwischen Spielenden, die ihrem Alltagshandeln
und vielleicht eh bestehenden Konflikten
aber auch einer falschen Harmonie abgerungen wird,
ihnen zur Seite gestellt, auf jeden Fall aber nicht aus
ihnen erklärt werden kann: der spielerische Umgang
miteinander, das sich wechselseitige Necken, Verfolgen,
‚Haschen‘ und Wieder-Verlieren.

Hans-Georg Gadamer, dem wir eine der knappsten
und zugleich treffendsten Phänomenologien des
Spiels verdanken, fasst diese Erfahrung der Selbstvergessenheit
im Spiel folgendermaßen: »Das Spiel
hat ein eigenes Wesen, unabhängig von dem Bewusstsein
derer, die spielen. Spiel ist auch dort, ja eigentlich
dort, wo kein Fürsichsein der Subjektivität den
thematischen Horizont begrenzt und wo es keine Subjekte
gibt, die sich spielend verhalten. Das Subjekt
des Spieles sind nicht die Spieler, sondern das Spiel
kommt durch die Spielenden lediglich zur Darstellung.«

Wir kommen nicht umhin, zuzugestehen, dass wir
das Spiel marginalisiert haben, es täglich zu etwas
Uneigentlichem erklären, es von uns wegweisen und
bestenfalls dem Spiel anderer (Theater, Film, Musik,
Sport) zuschauen, ohne aber selber zu spielen. Auch
die Liturgie, die wir gerne als »heiliges Spiel« verbrämen,
ist etwas, an dem wir nur im Idealfall einer
echten Actuosa participatio, einer aktualisierenden
Teilhabe, wirklich ‚mitmachen‘, ansonsten schauen
wir auch hier nur zu, konsumieren, was wir eigentlich
prosumieren sollten, also miteinander etwas hervorbringen.
Zugleich ist der appellierende Ton, den ich
hier anschlage, völlig verfehlt, denn zum Spiel kann
man nicht auffordern, dem Spiel kann man nur Raum
geben, man kann es geschehen lassen, ihm seinen
Lauf lassen, sich ihm und damit den Mitspielenden
anheim- oder besser hingeben. Selbst eine – eindeutig
unsachgemäße – funktionale Betrachtung des Spiels
würde ein Verwerfen des Spiels, das den Alltag vieler
Menschen bestimmt, in Frage stellen müssen. Thomas
von Aquin spricht aus der antiken und letztlich aristotelischen
Tradition, wenn er – sonst dem Unnützen
eher wenig zugeneigt – bemerkt: »Der Geist des
Menschen bräche, wenn er niemals aus seiner Angespanntheit
gelöst würde. Derartiges Sagen und Tun
aber, in dem nur eine seelische Erfreuung gesucht wird, nennt man Spiel oder Scherz. Es ist somit notwendig, zuweilen derlei zu
gebrauchen, sozusagen zu einer gewissen Beruhigung der Seele«. Der Spiel-Film
»Work Hard – Play Hard« empfiehlt sich als aktuell bittere Reflexion auf den Verlust
auch noch dieses funktionalen Spiel-Verständnisses der strengen Scholastik.

Dass das Spiel über uns hinausgeht, uns transzendiert und wir quasi von Natur
aus in es hineingestellt sind, dass das Spiel zwar ein Zeichen für ein gewisses Bewusstsein,
aber keineswegs dem Menschen alleine eigen ist, bildet die Sinnspitze
des schon erwähnten Schlüsselwerkes »Homo Ludens« von Johan Huizinga, der
den Menschen als Ganzen vom Spiel her bestimmen will, das Spiel aber zugleich
als uns alle weit überschreitendes geistiges und geistliches Phänomen aus und in
Natur und Schöpfung begriff: »Nahezu alles Abstrakte kann man leugnen: Recht,
Schönheit, Wahrheit, Güte, Geist, Gott! Den Ernst kann man leugnen, das Spiel
nicht. Mit dem Spiel aber erkennt man, ob man will oder nicht, den Geist. Denn
das Spiel ist nicht Stoff, worin auch immer sein Wesen bestehen mag. Schon in der
Tierwelt durchbricht es die Schranken des physisch Existenten. Von einer determiniert
gedachten Welt reiner Kraftwirkungen her betrachtet, ist es im vollsten
Sinne des Wortes ein Superabundans, etwas Überflüssiges. (…) Das Dasein des
Spiels bestätigt immer wieder, und zwar im höchsten Sinne, den überlogischen
Charakter unserer Situation im Kosmos. Die Tiere können spielen, also sind sie
bereits mehr als mechanische Dinge. Wir spielen und wissen, dass wir spielen,
also sind wir mehr als bloß vernünftige Wesen, denn das Spiel ist unvernünftig.«

»Zum Spiel kann man
nicht auffordern,
man kann ihm nur
Raum geben und es
geschehen lassen«

Joachim Valentin
Ontoludologie – die schöpferische Kraft des Spiels

Neben der durchaus auch trivialen, auf jeden Fall aber jederzeit alltäglich zu machenden
Spiel-Erfahrung hebt die Reflexion über das Spiel in unserem Kulturkreis
ungemein früh und dann gleich mit nicht anders als ontologisch, also schöpfungsund
gründungslogisch zu nennendem Anspruch an. Sowohl die griechische wie die
jüdische Tradition spricht dem Spiel ohne Wenn und Aber eminent schöpferische
Kraft zu, ja: ‚Sein‘, Schöpfung und Spiel sind eins. Keine Kreativität und keine Creatio
ohne Spiel, denn ohne Spiel bliebe alles, wie es war, nämlich nichts, oder doch
nur ungeformte Masse. So hören wir im hellenistisch gefärbten Buch der Sprichwörter
(8, 22f, 30ff) aus dem Munde der Sophia (Weisheit/Klugheit): »Der Herr hat
mich geschaffen als Anfang seines Weges, / vor seinen Werken in der Urzeit; in
frühester Zeit wurde ich gebildet (…) Als er den Himmel baute, war ich dabei, als
er den Erdkreis abmaß über den Wassern (…), da war ich als geliebtes Kind bei
ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit. Ich spielte auf
seinem Erdenrund und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein. (…) Wer
mich findet, findet Leben und erlangt das Gefallen des Herrn.« Alle, die auf ihre eigene
Kreativität angewiesen sind, wissen, welcher spielerischen Liturgie, welcher
Befreiung von Formeln und Konventionen, welcher Kindwerdung im Atelier oder
am Schreibtisch es bedarf, um den Neuen Raum zu schaffen.

Und genauso grundsätzlich wird das Spiel in der griechischen Philosophie als
wirksam am Grund allen Seins gedacht. Noch vor Platon und Aristoteles bemerkt
Heraklit (520-460 v. Chr.), von dessen Denken uns nur Bruchstücke überliefert
sind, im »Fragment 52«: »Seinsgeschick, ein Kind ist es, spielend das Brettspiel;
eines Kindes ist das Königtum« und Martin Heidegger deutet und ergänzt 2500
Jahre später treffend: »Das heißt die archä, das stiftend verwaltende Gründen, das Sein dem Seienden (ist) ein Kind, das spielt. Somit gibt
es auch große Kinder. Das größte, durch das Sanfte
seines Spiels königliche Kind ist jenes Geheimnis des
Spiels, in das der Mensch und seine Lebenszeit gebracht,
auf das ein Wesen gesetzt wird. (…) Das ‚Weil‘
versinkt im Spiel. Das Spiel ist ohne ‚Warum‘. Es
spielt, dieweil es spielt. (…) Sein als gründendes hat
keinen Grund, spielt als der Ab-Grund jenes Spiel, das
als Geschick uns Sein und Grund zuspielt. Die Frage
bleibt, ob wir und wie wir, die Sätze dieses Spiels hörend,
mitspielen und uns in das Spiel fügen.«

Solch philosophisch abgeflogene Formulierungen
einer Ontoludologie, also einer Platzierung des Spiels
an die Wurzel des Seins, mögen Vielen unzugänglich
sein. Doch haben wir einmal bedacht, dass ein barocker
Kirchenhimmel voller Musik, mit Weltkugeln
oder anderweitig spielenden Putten genau das Gleiche
sagt: Dass nämlich im Himmel, also dort, wo alleine
Gottes Geist, unabhängig von materieller Bedingtheit
herrscht, alles spielt? Hugo Rahner formuliert 1948
naturgemäß etwas altväterlich: »Die Ewigkeit wird
also werden, was das verlorene Paradies einst war:
ein göttliches Kinderspiel, ein Reigen des Geistes, eine
endlich und ewig gelungene Leibwerdung der Seele.
Daher kommt es (…), dass der Tanz eine wesentlich
kultische Handlung war. (…) Wir können das Geheimnis
des homo ludens nicht erfassen, wenn wir nicht
zuerst in aller Ehrfurcht sprechen vom Deus ludens,
von dem schöpferischen Gott, der die Welt der Atome
und der Geister wie in einem ungeheuren Spiel ins Dasein
rief.«

Fazit

Wir wollten ja eine Blütenlese vermeiden, aber um die
Breite, in der das Thema Spiel die christliche Tradition
bestimmt (und wie sehr wir sie vergessen haben),
zu dokumentieren, sollen noch einmal zwei sehr unterschiedliche
Stimmen zu Wort kommen. So schreibt
Clemens von Alexandrien: »Oh dieses weise Kinderspiel.
Ein Lächeln ist´s, unterstützt von Geduld, und
Zuschauer ist der König. Fröhlich ist der Geist derer,
die in Christus Kinder sind und wandeln in Geduld.
Ja, das ist ein göttliches Kinderspiel.« Und Mechthild
von Magdeburg, entdeckt das Spiel mehr als tausend
Jahre später zwischen den Personen der Dreifaltigkeit
und ebenfalls zu Beginn der Schöpfung:
»Da spielte der Heilige Geist dem Vater ein Spiel in
seligem Überschwang. Und schlug auf die Harfe der
Heiligen Dreifaltigkeit und sang ‚Herr, lieber Vater, ich
will aus Dir selbst einen gütigen Rat Dir geben: Wir wollen nicht länger so unfruchtbar leben. Lass uns
haben ein geschaffenes Reich und bilde die Engel mir
gleich, dass sie seien ein Geist mit mir. Der Mensch
soll das andre sein.‘«

Es wird also höchste Zeit, dass wir dem Spiel einen
Weg zurück in den Alltag und in unsere christliche,
also eine dezidiert religiöse Praxis bahnen. Der
Tanz hat religiöse Wurzeln, auf Kreta kann man noch
die Schaukeln bewundern, mit denen die mykenische
Kultur sich im religiösen Ritus ins Glück schaukelte.
Nikolaus Cusanus hat mit dem »Ludus Globi« ein
‚göttliches Welt-Spiel‘ nach Art der barocken Putten
erfunden, das man bis heute spielen kann, und
schreibt darüber: »Dieses Spiel bezeichnet die Bewegung
unserer Seele aus ihrem Reich in das Reich
des Lebens, in dem Ruhe und ewige Seligkeit ist, in
dessen Zentrum unser König und Spender des Lebens,
Jesus Christus, thront.« Spiel und Schauspiel (nicht
nur die Liturgie, sondern auch Theater und Film) in
diesem Sinne nicht als Nebenweg, als Ablenkung oder
Abwendung von Gott hin zur ‚Welt‘ zu begreifen, aber
auch kirchliches Handeln und Streiten als »ernstes
Spiel« zu betrachten, scheint mir kein schlechter Impuls
angesichts unserer heutigen Kämpfe, Sorgen und
Verhärtungen zu sein. Neben dem Effekt, dass so kompetitive
Petrifizierungen überwunden würden, dürfte
auch aus dem Prozess solcher Spiele oder wenigstens
der Umdeutung des Synodalen Wegs oder gar des Diskurses
mit »Rom« als Spiel weit mehr gute Laune und
kreatives Potential entspringen, als dies zur Zeit der
Fall ist.