Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
© Kevin Carden, Adobe Stock

Mit Hörspielen neue Räume eröffnen

Thriller, Krimis, Liebesgeschichten, Komödien oder Feel-Good-Stücke – Hörspiele können ein einzigartiges Kopfkino erzeugen und erwecken den Eindruck, mitten im Geschehen zu sein

Während meiner Studienzeit besuchte ich
u.a. Vorlesungen von Maria Elisabeth
Hohn, einer illustren älteren Professorin an
der Universität Koblenz. Mit Vorliebe las sie Märchen
und Klassiker vor. Sie vermittelte diese Texte auditiv.
Sie brachte sie zu Gehör. Das hatte etwas Archaisches
und erinnerte an die altehrwürdige Kunst des Hakawatis,
des syrisch-arabischen Märchenerzählers. Von
ihrer Art des Vortrags ging eine seltsame Faszination
aus. Man wollte sich diese kunstvolle Form des Lehrens
von Inhalten und Sachkenntnissen unbedingt zu
eigen machen. Man wollte das nicht nur können, man
musste es können. Zum Abschluss jeder Lehrveranstaltung
wiederholte Hohn dann wie ein Mantra die
eindringliche Aufforderung: »Schulen Sie das hörende
Erfassen!«

Da ich ein sogenanntes Kassettenkind bin – das
heißt, dass ich zu der Generation gehöre, die in den
1970er und 1980er Jahren mit den klassischen Vinyl-
Schallplatten und Tonbandkassetten aufwuchs –, ist
das hörende Erfassen etwas mir von frühester Jugend
an Vertrautes und – das muss besonders betont werden
– auch Trainiertes. Denn das Erfassen, Verstehen,
Begreifen, Verarbeiten und Speichern von (zu lernen-
W den) Sachverhalten, kurz: das intellektuelle Denken,
muss beständig geübt und kultiviert werden.

Zwei der wichtigsten rein auditiven Medien, um
das hörende Erfassen zu schulen, zu trainieren und zu
kultivieren, sind zweifelsohne das Hörspiel und das
Hörbuch, wobei in heutiger Zeit wohl auch der Podcast
hinzuzunehmen ist. Hörspiel und Hörbuch sind
audiomediale Gattungen, die streng voneinander zu
trennen sind, auch wenn beispielsweise Buchgroßhändler
alle diesbezüglichen Audio-Produktionen unter
dem Oberbegriff Hörbuch subsumieren.

Das Hörbuch – eine dramatisierte Lesung

Unter Hörbuch versteht man das Vorlesen oder Vortragen
eines Manuskripts durch in der Regel eine
einzelne Sprecherin oder einen einzelnen Sprecher.
Je nach Sprecherin oder Sprecher kann das zu einem
großen Vergnügen werden, wenn diese(r) es versteht,
den Text spannend und ansprechend zu gestalten,
beispielsweise jedem Charakter seine eigene Stimmfarbe
zu geben und somit dem Text einen ganz eigenen
Charakter zu verleihen.

Allerdings muss an dieser Stelle darauf hingewiesen
werden, dass das professionalisierte Vorlesen
bzw. Vortragen bereits eine Form der literarischen und
intentionalen Interpretation ist, die eine Deutung des
Textes vorgibt. Sie nimmt dem eigenen Lesen also quasi
die Luft, kann aber auch bei komplizierten Sachverhalten
zu einem inhaltlichen Verständnis führen, das
die eigene Auseinandersetzung nicht ermöglicht.

Selten wird der Vortrag durch Musik untermalt, in
der Regel aber eingeleitet und abgeschlossen. Geräusche
kommen in der Regel nicht zum Einsatz, wenn,
dann nur ganz minimalistisch. Eine solche dramatisierte
Lesung kann je nach Länge des Manuskriptes
mehrere Stunden dauern, je nachdem, ob es sich um
eine gekürzte oder ungekürzte Lesung, also die originale
Buchfassung, handelt. Wird gekürzt, handelt
es sich um eine »eingerichtete Fassung«. Eine solche
Form der Bearbeitung kann beispielsweise einen
überladenen Text entschlacken, verschlanken und
besser lesbar machen. Es wird möglicherweise aber
auch das Gesamtverständnis des Textes verfälschen.

Das Hörspiel – großes Kopfkino

Das Hörspiel hingegen muss von der Lesung klar unterschieden
werden. Dieses Medium erzählt eine Geschichte
mit allen Möglichkeiten, die das Auditive der
menschlichen Fantasie zur Verfügung stellt,
um sie zu entfachen. Hierfür wurde der Terminus
»Kino im Kopf« gefunden. Siggi Seuß
formuliert es in einem Radio-Feature für
den Deutschlandfunk folgendermaßen: »Ein
Hörspiel ist großes Kino im Kopf. Oder sagen
wir besser: kann großes Kino im Kopf
sein. Bilder entstehen in uns, bewegte Bilder,
die unsere Fantasie nicht einengen – im
Gegenteil: Sie befördern unsere Fantasie, ja
sie machen sie sogar zum Bündnisgenossen
in einem Abenteuer, das in jedem Kopf einmalig
ist und einzigartig.«

Um dies zu verwirklichen, nutzt das Hörspiel
tatsächlich alle auditiven Mittel sowie
natürlich entsprechende Musik. Man kann es
mit der Tonspur eines Films vergleichen. Bei
einem Hörspiel hat man alles, was man auch
in einem Film findet – nur eben kein vorgegebenes
Bild, das der Fantasie eines Einzelnen
entspringt. Das Hörspiel lässt im Kopf des
Zuhörers ein eigenes individuelles Bild entstehen,
das sich von dem anderer Hörer desselben
Hörspiels völlig unterscheiden kann.

Alle Charaktere werden von entsprechenden
Sprecherinnen und Sprechern gesprochen,
die Geräuschkulisse suggeriert ein
reales Geschehen und ein entsprechender
Soundtrack sorgt für die passende musikalische
Untermalung. Durch die im Zusammenspiel
aller Zutaten entstehende Spannung
(Suspense) entsteht durch das Zuhören für
den Zuhörer im idealen Fall der Eindruck,
mitten im fiktiven Geschehen zu sein.

Anzumerken ist, dass es sich um ein
rein deutschsprachiges Phänomen zu handeln
scheint, da sich beispielsweise das im
englischsprachigen Raum als »audio play«
oder »radio play« bekannte Format dort
nicht durchgesetzt hat, sieht man einmal
von Ausnahmeerscheinungen wie der Hörspieladaption
von H. G. Wells’ »Der Krieg
der Welten« ab.

Der Begriff Hörspiel wurde 1924 geprägt.
In Deutschland wurde diese Erzählform
speziell für den Hörfunk entwickelt.
Mit dem Aufkommen der Vinyl-Schallplatte
und der Tonband-Kassette kam es zu einer
Aufspaltung zwischen der ersten originären
Kunstform, die das Radio in den 1920er
Jahren hervorgebrachte, und dem kommerziellen
Hörspiel von privaten Firmen wie
Maritim und Europa. So wurde es möglich,
ein Hörspiel auf einem Tonträger zu erwerben,
und, da man nicht an Sendetermine gebunden
war, es in seinem Abspielgerät zu
Hause immer und immer wieder anzuhören.
Man konnte also das Kopfkino getrost nach
Hause tragen, um einmal ein Goethezitat zu bemühen. Im Prinzip setzten die Audio-CDs
und die digitalen Formate, die man auf seinem
mobilen Smartphone abspielen und anhören
kann, diesen Trend konsequent fort,
wenngleich es immer noch in großer Zahl
Liebhaber der Vinyl-Schallplatte und der
Tonbandkassette gibt.

»Um ein Hörspiel selbst umzusetzen,
braucht es nur wenige Mittel«

Peter Wayand

Die Inhalte, die über das Hörspiel vermittelt werden
können, sind vielfältig und reichen vom gewöhnlichen
Krimi bis hin zu Bildungsinhalten, vom Märchen
der Gebrüder Grimm bis zum Mitschnitt von
Theateraufführungen, von lediglich mit einem Erzähler
angereicherten Tonspuren bekannter und berühmter
Blockbuster bis zur aufwändig produzierten, oft
mehrteiligen Adaption beliebter Publikumsstoffe.

Die Sprecherinnen und Sprecher sind in der Regel
bekannte und beliebte Schauspieler, die ihre Rollen
meist nur als geringbezahlte Nebentätigkeit einsprechen,
während ihr Hauptarbeitsgebiet weiterhin der
Film und die Bühne bleibt. Dies schult in hohem Maße
die Sprachfähigkeit und Sprachkultur der Hörerinnen
und Hörer solcher Produktionen, die oftmals die Texte
der Geschichten auswendig lernen und den entsprechenden
Duktus imitierend mitsprechen können.

Mittlerweile bilden sich eigene Berufszweige wie
der Synchronsprecher und der Sprecher für jedwede
Art von Audioproduktionen heraus, die in Kursen
und Akademien ausgebildet und unterrichtet werden.
Ebenso ist der Geräuschemacher ein eigener Beruf,
und der Dialogbuchautor und Dialog-Regisseur eine
eigene Sparte bei Film, Fernsehen und Audioproduktionen.
Viele professionelle Produzenten greifen aber
nach wie vor bevorzugt auf gelernte Schauspielerinnen
und Schauspieler zurück.

(Zu)hören im Unterricht

Das Hörspiel bietet als didaktisch nutzbare Methodik
eine Vielzahl an Möglichkeiten, um auf besondere,
verständliche Art Bildungsinhalte zu transportieren.
So hat das Hörspiellabel Puzzlecat Entertainment ein
Hörspiel im Angebot, das sich mit der Fragestellung
befasst, ob Jesus von Nazareth tatsächlich am Kreuz
gestorben oder vielleicht doch auferstanden
ist. Die unterschiedlichen Interpretationsansätze
werden im Hörspiel als Dialog
zwischen den Protagonisten Father Brown,
Sherlock Holmes und Dr. John Watson erörtert
und somit in wirksame, bekannte Hände
gelegt, denn sowohl Gilbert Keith Chestertons Father
Brown als auch Arthur Conan Doyles berühmter
Meisterdetektiv sind ausgewiesene Publikumslieblinge.
Der Zuhörer kann dem Gespräch folgen und den
doch teilweise sehr komplizierten theologischen Diskurs
auch durch die Verbindung mit seinen Lieblingshelden
besser nachvollziehen.

Um ein Hörspiel entweder im Unterricht oder privat
umzusetzen, braucht es nur wenige Mittel: 1.) ein
Hörspieldrehbuch, das alle Sprechtexte und die notwendigen
Regieanweisungen enthält; 2.) Sprecherin
oder Sprecher; 3.) saubere und trockene Aufnahmemöglichkeiten.
Hier gibt es mittlerweile sehr kostengünstige
Einstiegslösungen; 4.) Geräusche zum Vertonen.
Die allermeisten Geräusche sind problemlos
mit Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs zu realisieren.
Hier kann man sehr kreativ werden und wird
sich wundern, welche Gegenstände Geräusche erzeugen,
die man ganz anderen Situationen und Verursachern
zurechnen würde. Zerbricht man beispielsweise
eine trockene Eierschale langsam in der Hand vor
einem Mikrofon und hört sich die Aufnahme danach
an, wird man sich wundern, was man alles damit assoziieren
kann; 5.) Musik. Gute und passende Unterlegungsmusik
zu bekommen, ist heute zwar möglich,
aber, ohne sich in großartige Kosten zu stürzen, nicht
gerade einfach, da die Rechtesituation für die Nutzung
von Musikstücken sehr rigide geworden ist. Am
besten ist hier die Selbstproduktion. Vielleicht ergibt
sich bei dem Projekt Hörspiel eine interdisziplinäre
Zusammenarbeit mit anderen Schulfächern.

Fazit

Das Hörspiel ist eine auditive Kunstform und zugleich
eine das hörende Erfassen schulende didaktische Makromethode,
die unzählige Möglichkeiten bietet, um
auf unkonventionelle Art und Weise den Lernprozess
bei Kindern, Jugendlichen und auch so manchem Erwachsenen
angenehm, anregend und auch ein wenig
abenteuerlich zu gestalten. Es ist bei weitem weniger
aufwändig, als ein Theaterstück zu inszenieren oder
einen Film zu drehen. Aber es generiert dadurch nicht
weniger oder schlechtere Ergebnisse, sondern eröffnet
neue Räume, Möglichkeiten und Dimensionen.
Also, »schulen Sie das hörende Erfassen!«