Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
®Fruitmarket Langfilm, IIPM, Armin Smailovic

Vom heiligen Ernst – das Spiel in der religiösen Bildung

Im Religionsunterricht kommen ganz verschiedene Formen des Spiels zum Einsatz und haben dort einen festen Platz

Die hohe Wertschätzung des Menschen als
Homo ludens in Philosophie und Theologie
lässt sich auch in der Religionspädagogik
nachvollziehen. »Von Kindheit an pflegen Menschen
im Spiel einen erprobenden, kreativen und gleichzeitig
strukturierten Umgang mit der Wirklichkeit.«
Dem Spiel und dem ‚erprobenden Handeln‘ kommt in
der Entwicklung der Persönlichkeit, aber auch in der
Entwicklung von Kultur überhaupt eine umfassende
Bedeutung zu. Der Homo sapiens kommt als Homo ludens
(Johan Huizinga) im Spiel zu sich selbst, er entwickelt
im Spiel seine gesamten kulturellen Fähigkeiten.
Erik H. Erikson hatte in der dritten Stufe seiner
Theorie der psychosozialen Entwicklung das »Tun«
und das »Tun als ob« einander gegenübergestellt
und mit diesen Polen das Spielalter beschrieben, in
dem die Initiative und das Schuldgefühl in der Persönlichkeitsentwicklung
des Kindes miteinander zur
Aushandlung stehen. »So tun als ob«: Darin stecken
Dynamiken, die im Sich-Erproben, Sich-Entziehen,
Aussteigen und Neu-Einsteigen, aber auch im Erlernen
der Verantwortung für die eigene Initiative und
ihrer Konsequenzen lebendig erfahrbar werden. Was
bei Erikson vorrangig im Kindesalter lokalisiert wird,
hat sich längst bis ins Erwachsenenalter fortgesetzt:

»Tun« und »So tun als ob«, Zeigen und Inszenieren
vollziehen sich im täglichen, realitätsverschränkten
Spiel der Social Media. »Wir alle spielen Theater«, zu
diesem Schluss kam der empirisch orientierte Mikrosoziologe
Erving Goffman in seiner 1959 erschienenen
Analyse des Alltagshandelns von Menschen in ihren
sozialen Interaktionen. Das Spiel ist pädagogisch eine
vielschichtige Angelegenheit. Aktuell scheint die Diskussion
über digital basierte Spiele das Verstehen und
Bedenken des Spiels in der Religionspädagogik zunehmend
zu überlagern. Beispielsweise sind in den letzten
Jahren mehrere umfangreiche Monographien über das
Zueinander von Computerspiel und Religionspädagogik
erschienen, und im neuen »Handbuch Religionsdidaktik
« verweist die Stichwortliste bei »Spiele« direkt
auf digitale Spiele, die ohne Zweifel einen wichtigen
Aspekt der gegenwärtigen jugendlichen Mediensozialisation
bilden und auf Prozesse jugendlicher Identitätsentwicklung
einwirken. Mediatisierung hat das
Spiel inzwischen weitreichend geprägt und für wachsende
Altersgruppen erschlossen. Digitale Spiele haben
sich längst zu einem Massenmarkt entwickelt, seit
2008 gelten sie offiziell als Kulturgut, wenn man die
Mitgliedschaft des Bundesverbands »games« im Deutschen
Kulturrat als entsprechendes Indiz wertet.

Das Wesen des Spiels

Doch wirkt die Konzentration auf digitale
Spiele zu kurz gegriffen für die Bedeutung
des Spiels in Fragen und Zusammenhängen
religiöser Bildung. Das Spiel erschließt dynamisch
einen spannungsvollen Zwischenraum,
den Mirjam Zimmermann und Olivia
Rahmsdorf als Wesen des Spiels beschreiben.
Dieser Zwischenraum lässt sich wie
folgt abstecken:

1. Regelhaftigkeit und Offenheit: Dieser
Zwischenraum entsteht zwischen dem
Einüben spezifischer Regulatorien mit
abgesteckt geltender Reichweite und der
Möglichkeit, diese zu adaptieren und zu
verändern für eine konkrete spielerische
Praxis, einen konkreten spielerischen
Kontext.

2. Freiwilligkeit und Verpflichtung: Das
Spiel setzt auf Freiwilligkeit, kann aber
auch (zum Beispiel in Multiplayer-Rollenspielen,
die auf langfristige Zusammenarbeit
in einer Gruppe setzen) hohen
Verpflichtungsgrad erzeugen. Auch im
pädagogischen Kontext zeigt sich die Relevanz
des Aushandelns zwischen eigener
Zielvorstellung und der Verantwortung
gegenüber den Spielpartnern.

3. Zweckfreiheit und Funktionalität: Diese
Dimension betrifft den pädagogischen
Umgang mit dem Spiel ganz besonders:
Im Unterricht können Elemente des
Spiels nicht zweckfrei eingesetzt werden.
Kritisch ist anzufragen: Wird ein Spiel
didaktisch funktionalisiert und wird
umgekehrt Didaktik über das Sinnvolle
hinaus verspielt, gamifiziert? Wo verläuft
die Grenze zwischen lernendem Spiel und
spielendem Lernen, muss eine solche gezogen
und geachtet werden? Oliver Kliss
wertet aus theologischer Perspektive die
Zweckfreiheit sogar als das wichtigste
und letztlich sogar einzige Merkmal des
Spiels.

4. Reproduktion und Variation: Zum Spiel gehört
das Ritual, das aus dem Nachvollzug
lebendig wird; Variationen können eingezogen
und sozial ausgehandelt werden.

5. Separierung und Beziehung: Der Wunsch
nach einer eigenständigen, autonomen
Bezugnahme auf die Welt kann das
Spielehandeln sehr prägen, ebenso wie
die interaktionale Aushandlung in der Begegnung,
die freie soziale Bezugnahme, in
der aber auch Verlässlichkeit, Ernst und
Vertrauen gelernt werden können. Sozialpsychologische
Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung
kommen in diesem Zwischenraum
besonders zum Tragen.

6. Müßiggang und Eifer: Hier erstreckt sich
das Spannungsfeld von Entspannung und
Spannung, von freiem Lassen und hartnäckiger
Konzentration, von Wollen und
Können.

7. Virtualität und Realität: Wer spielt, weiß,
dass es ein Spiel ist, und kann Spiel und
Realität in der Regel voneinander abgrenzen.
Eine Ontologie des virtuellen Raums
muss in ihrer Fraglichkeit dimensioniert
und als offene Spannung ausgehalten werden.
Begriffe wie Gegenständlichkeit, Körper,
Leiblichkeit und Beziehung werden
unter Bedingungen der digitalen Welten
aufgehoben in Avatare und Stellvertreter,
die virtuell interagieren und kommunizieren.
Der Psychoanalytiker Thomas Fuchs
verortet indes Realitätsgewissheit weiterhin
in leiblichen, zwischenmenschlichen
Erfahrungen: Real ist das, was dem Menschen
Widerstand entgegensetzt, der Leib
bleibt Garant der Wirklichkeit, auch die
Begegnung mit der Wirklichkeit des Anderen,
das in leibhaftiger Anwesenheit unmittelbar
entgegentritt. Dies bereitet vor
auf das letzte Begriffspaar:

8. Unmittelbarkeit und Abstraktion: In diesem
Spannungsfeld erstrecken sich die
pädagogisch und didaktisch so wichtigen
wie wesentlichen Dimensionen der Emotion
und der Kognition. Unmittelbar-affektive
und kognitiv-abstrakte Weisen der
Erfahrung und der Wahrnehmung gehören
zum ganzheitlichen Erleben im Spiel.
Affekte können im Spiel freigesetzt, aber
auch präventiv in Bahnen gelenkt werden,
im Probehandeln können Folgeabschätzungen
des eigenen Handelns getestet
und spielerisch ausgelotet werden.

Das Spiel im Religionsunterricht

Die Religionspädagogik kennt und empfiehlt sehr
verschiedene Spielformen, die didaktisch positioniert
in unterrichtlichen Zusammenhängen vorkommen
können und darin teilweise einen festen Platz
einnehmen. Dazu zählen Interaktions- und Gemeinschaftsspiele,
beispielsweise in Kennenlern- und Entspannungsphasen
und zur Stärkung und Entwicklung
des sozialen Miteinanders, Symbolspiele, zu denen
der religionsdidaktisch ausführlich begründete und
fachspezifisch entwickelte Einsatz von Legematerialien
und Erzählspielen gehören, sowie das Godly
Play, inhaltsbezogene Rate- und Lern-Spiele, die heute
gerne als digital basierte Spiele umgesetzt werden,
sowie Darstellungs- und Rollenspiele, in denen sich
spezifisch religionspädagogische Spielformen finden
wie Bibliodrama, Krippenspiel, Evangelienspiel, aber
auch bewegter Religionsunterricht und Tanz. Diese
vielfältigen Spielformen setzen bei unterschiedlichen
Spielverständnissen an, erkunden verschiedene Aspekte
der genannten Zwischenräume und enaktieren
auf unterschiedliche Weise Rollen und Inszenierungen.
Auch die aktive Beteiligung der Lernenden
kennt eine große Bandbreite von eher erlebnisorientierten
oder eher wahrnehmungsorientierten Zugängen.
Ein guter Respekt vor dem heiligen Ernst des
Spiels sorgt für den notwendigen Abstand von einer
allzu didaktischen Verzweckung einer echten Spieldynamik:
Offenheit für das Geschehen und den Vollzug
sind in jeweils unterschiedlichem Ausmaß notwendig
und geboten.

Und doch können didaktisch zu qualifizierende
Perspektiven in spielerisch begründete Umgebungen
eingezogen werden, wie dies religionsunterrichtlich
im Umgang mit Legematerialien geschieht, aber auch
in Film, Performance, und Theater. Das Spiel kann
etwas zeigen, deiktisch wirken und ein vertiefendes
Verstehen aktiv anzielen. Beispielsweise kennen und
reflektieren bestimmte Traditionen des Theaters ein
Selbstverständnis als pädagogisch, vielleicht auch
moralisch inspirierende Kraft: Exemplarisch zu nennen
wäre Bertolt Brecht, der, wie die Pädagogin Wilna
Meijer hervorhebt, »unerbittlich darauf bestand,
dass es bei der Performance eines Schauspielers nicht
auf Glaubwürdigkeit und Natürlichkeit ankomme. Es
gehe nicht darum, Reaktionen auszulösen wie: ‚Ja,
klar, genauso ist es.‘ Vielmehr sollten Verwunderung und Neugier hervorgerufen werden. Brecht wollte mit
einem Theater brechen, das seine Zuhörerschaft einlullt
und sie mit dem Mittel der Illusion ihre Realität
vergessen und mit ihrem Schicksal sich so versöhnen
lässt.« Auch die Intention der christlichen Liturgie,
die Romano Guardini als Heiliges Spiel ergründete,
überschreitet die dynamischen Zwischenräume in
verschiedene Richtungen. Die hohe Ernsthaftigkeit
der Teilhabe und Teilgabe am Spiel wird erfahrbar.

Die Ernsthaftigkeit des Spiels

In der Tradition des Evangelienspiels steht der Film
»Das neue Evangelium« von Milo Rau. Er wird in diesem
Heft an anderer Stelle zum Thema gemacht (siehe
ab Seite 92). Mit dem Spiel des Evangeliums, das
deutende und verändernde Kraft in sich bergen will,
mischt sich im Film der Ernst einer politischen Lage,
in der Ausbeutung und Rechtlosigkeit wirken. Er bewegt
sich zwischen Spiel und Ernst, zwischen abstraktem
Zeigen und unmittelbarem Erfahren, er unterwirft
sich Dynamiken der Reproduktion und nutzt
eine breite Klaviatur der Variation.

»Dem Spiel kommt in der Entwicklung
der Persönlichkeit und Kultur
eine umfassende Bedeutung zu«

Viera Pirker

Die Vermischung verschiedener Ebenen der Realität
und Fiktionalität geschieht in diachronen und
synchronen Überlagerungen, in der personelle Kontinuitäten
auch einen Mix zwischen Person und Prosopon,
zwischen Schauspielern und Rolle erzeugen. Die
Augmentierung der Realität durch die Ein-Bildung
weiterer Ebenen, eine Überkreuzung von Zwischenfeldern
wird darin intensiv vollzogen.

Milo Rau dreht 2019 in der europäischen Kulturhauptstadt
Matera, der süditalienischen Stadt, die
den Flair, die Hügel und Bauweisen Jerusalems wie
einen Zauber in der eigenen DNA trägt, mindestens
seit Pier Paolo Pasolini dort 1964 »Il vangelo secondo
Matteo« gedreht hat. Rau zitiert diesen Film und
vollzieht zugleich eine kluge Mischung verschiedener Ebenen, in denen Räume ineinander verschwimmen
und zugleich Zwischenräume ausloten, die eigentlich
nicht so gut zueinander gehören. Milo Rau zeigt seine
Arbeitsweise, er dreht zugleich dokumentarisch
und fiktional, macht zugleich einen Jesusfilm und eine
Dokumentation der »Rivolta della Dignità« der unterdrückten
und in Illegalität gehaltenen Geflüchteten,
die in der Region leben und unterbezahlter Feldarbeit
nachgehen. Auf diese Art wird die Jesusgeschichte
vielleicht etwas direkt, aber doch in ihrer sozialkritischen
Kraft neu formuliert und aktualisiert, bis hin
zu Konsequenzen für das Leben der Zuschauenden,
die sich als Konsumierende, als Teil des Spiels wissen
und auch so adressiert werden. Eine starke Wirkung
entwickeln eingestreute Castingszenen, in der die örtliche
Bevölkerung für Rollen gewonnen und nach ihrer
Erfahrung befragt wird, bspw. ein junger Mann,
der sich als Folterknecht bewirbt und mitten in einer
Kirche vor laufender Kamera einen extremen, gewalttätigen,
zutiefst rassistischen Ausfall inszeniert, um
sich in dieser Rolle als ideal zu erweisen. Oder es findet
sich ein Moment, in dem der örtliche Priester die
Gelegenheit zu ergreifen scheint, Jesus zu erklären,
unmittelbar bevor das Filmteam, die Schauspielenden
und die Statisten sich auf den Weg machen, den Kreuzweg
zu drehen – bei dem sich die Zuschauerebenen der erzählten Ebene mit den offensichtlich ebenfalls
das Geschehen beobachtenden Touristen interessant
vermischen. Der Hauptdarsteller Yves Sagnet ist ideal
besetzt: Seinerseits 2008 von Kamerun nach Italien
migriert, hat er sich als politischer Aktivist im
Einsatz für gerechte Arbeitsbedingungen einen Namen
gemacht. Er spielt nicht Jesus, er steht mit seiner
ganzen Person und Biographie für die lebendige
Interpretation eines Menschen, der auf Veränderung
setzt und zum Handeln verführt. Dieser eminent politische, aber auch zutiefst wertorientierte
Film hat vielen Menschen, die sonst unter
entwürdigenden Bedingungen leben und arbeiten,
eine fairere Form des Geldverdienens
und des aufrichtigen miteinander Erzählens
ermöglicht – ein relevantes Detail, in der ein
Spiel ganz ernst wird, in der die Realität sich
erweitert um eine weitere filmische, erzählerische,
inszenierende Ebene und dadurch
ihrerseits besser und klarer verändert wird.

»Ein guter Respekt vor dem
heiligen Ernst des Spiels sorgt für
den notwendigen Abstand einer
allzu didaktischen Verzweckung«

Viera Pirker

Mit der Vertiefung entlang dieses Films
konnte verdeutlicht werden, wie sich verschiedene
Ebenen fruchtbar überkreuzen.
Die Religionspädagogik setzt wesentlich
auf ein Zueinander verschiedener Ebenen,
beispielsweise symbolischer Welten, persönlicher
Erfahrungen und biblischer Traditionen.
In die Dynamik des Spiels kann
ein Hauch der Wahrheit und Wirklichkeit
hineinfließen. Hier entsteht die Möglichkeit,
sich selbst und die Welt und die Dinge, die
in ihr verhandelt werden, in neuem Licht zu
sehen.

Ein Spiel bleibt Spiel und wird heiliger
Ernst. Ein Spiel bleibt Schau und sehnt sich
zugleich nach einer neuen Realität. Ein Spiel
bleibt Spiel und darf dort nicht verharren.
Ein Spiel kann verwandeln.