Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Erasmus-Mauritius-Tafel, Matthias Grünewald, 1517-1523, Alte Pinakothek München © Directmedia Publishing GmbH

Mauritius – ein Heiliger dekolonisiert sich

Der heilige Mauritius ziert seit Jahrhunderten das Coburger Stadtwappen. Dabei sorgt die Darstellung des Heiligen als »Coburger Mohr« für Kritik. Gleichzeitig ermöglicht der heilige Mauritius eine Diskussion auf Augenhöhe...

Dekolonisierung – ein Kulturkampf?

Am 4. Januar 2022 stellte die Fraktion der Alternative
für Deutschland (AfD) im Deutschen Bundestag
eine Kleine Anfrage mit dem Titel: »Restitutionsforderungen
als mögliches kulturpolitisches Soft-
Power-Instrument«. Darin »möchte sie wissen, ob sich
die Bundesregierung von der Rückgabe von Kulturgütern
an afrikanische Staaten einen Image-Gewinn
für Deutschland erhofft. Zudem will sie erfahren, ob
ein Zusammenhang zwischen der gestiegenen Anzahl
von Restitutionswünschen seitens afrikanischer
Staaten und der zunehmenden Präsenz Chinas auf
dem afrikanischen Kontinent besteht.«

Unweigerlich stellt sich bei dieser Anfrage ein
Hintergrundrauschen ein, dessen Resonanzton die
Große Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion vom Juli
2018 (»Aufarbeitung der Provenienzen von Kulturgut
aus kolonialem Erbe in Museen und Sammlungen«)
bildet. Die AfD äußerte damals bereits die Befürchtung,
»dass unter dem Schlagwort ,Dekolonialisierung
der ethnologischen Museen‘ ein Einfallstor für deren
ideologische Überformung geschaffen« werde. Es
müsse »Sorge getragen werden, dass unter dem Siegel
der Aufarbeitung der Provenienzen von Kulturgut aus
kolonialem Erbe nicht Ideengut in die ethnologischen
Sammlungen des Humboldt Forums hineingetragen
wird, das diese zum Schauplatz ideologischer Einflussnahme
mutieren lassen könnte«. So wurde auch
die neue Kleine Anfrage vom Januar 2022 durch eine
Rede von Kulturstaatsministerin Claudia Roth am
10.12.2021 ausgelöst, in der sie eine »Dekolonialisierung
unseres Denkens, unserer Sprache, eine Sensibilisierung
mit Orten, wo Erinnerungskultur auch in
diesem Bereich überhaupt erst mal beginnt«, einforderte.

Dekolonialisierung steht für die AfD also im Verdacht
einer übergriffigen ideologischen Einflussnahme
auf deutsche Kultur und Bildung. Karlheinz Weißmann,
Kuratoriumsmitglied der parteinahen Desiderius Erasmus-
Stiftung, rezensiert dazu in JUNGE FREIHEIT unter
der Überschrift »aggressive Pseudowissenschaft«
und »Zerstörungswerk der Postkolonialisten« sehr
wohlwollend das aktuelle Buch von Bernard Lugan
zur französischen Kolonialgeschichte in Afrika. Dabei
arbeitet er die folgende These des Buches heraus, von
der er sich in keiner Weise distanziert:

»Im Zentrum steht dabei die These, daß alles, was
wir in der letzten Zeit an wokeness, ‚Black Lives Matter‘,
Denkmalsturz, Antirassismus und Diversity-Propaganda
erlebt haben, zu den Folgewirkungen eines
Kulturkrieges gehört, der seit den 1960er Jahren nur
ein Ziel kennt: die Auslöschung all dessen, was weiß
und männlich ist und irgendwie auf die europäische
Hochkultur zurückgeht.«

Die Dekolonisierungsdebatte in Deutschland wird
von Karlheinz Weißmann also als Kulturkampf zwischen
zwei Gruppen verstanden, die nach den Parametern
weiß, männlich, europäische Hochkultur auf
der einen Seite und woke, Black, antirassistisch, divers,
denkmalstürzlerische Propaganda auf der anderen
Seite konstruiert werden. Solche identitären
Grenzziehungen gehen von kulturmorphologischen
Betrachtungen aus, die neben race-Aspekten auch
auf wesenhafte Zuschreibungen von Sprachen, Sitten
und Gebräuchen zurückgreifen. Hinzu kommt der
Bezug auf eine christlich-abendländische Herkunftsidentität.
Dies produziert jedoch nicht »jene Humanität,
… jene allgemeine Menschenverbrüderung, …
jenen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister,
Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle
Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben«,
sondern vor allem die Abwehr kultureller Diversität.
Sind People of Color (PoC), antirassistische Wokeness
und Diversität in Bezug auf Kultur und Gender also
Ausschlusskriterien für eine deutsche Identität? Ist
deren Abwehr ein notwendiger Schicksalskampf zur
Verhinderung eines Untergangs des Abendlands? An
dieser Stelle will der Beitrag sich nicht durch solche
Zumutungen triggern lassen, sondern einen kurzen
historischen Kontrapunkt setzen.

»Die Dekolonialisierungsdebatte in
Deutschland bleibt solange erfolglos,
wie die ‚deutsche‘ Identität über die
Abwehr unserer eigenen kulturellen
Diversität definiert wird«

Frank van der Velden
Christentum in Deutschland war ursprünglich Black

In der beliebten britischen Krimi-Serie »Endeavour
Morse« eröffnet die zweite Folge (»Colours«) der fünften
Staffel6 mit einer Diskussion im Debattier-Club
der Universität Oxford am Ende der 1960er Jahre. Die
zu diskutierende These lautet: »Dieses Haus glaubt an
ein Ende der Einwanderung und an die Repatriierung
aller hier lebenden Einwanderer in die Länder ihrer
Vorfahren«. In der anschließenden Diskussion argumentiert
ein junger Schwarzer englischer Wissenschaftler
folgendermaßen:

»Wir sollten gut überlegen, wen wir als Einwanderer
bezeichnen. Die Schwarzen Menschen sind schon
viel länger hier als die Angeln, die Sachsen, die
Jüten, die Normannen, die Hugenotten. Lange
bevor viele ihrer Vorfahren dieses grüne, charmante
Land betraten, waren es die Nubier, die
auf dem Hadrianswall Wache standen. Und der
nun vorliegende Antrag verlangt, dass alle hier
lebenden Einwanderer in die Länder ihrer Vorfahren
zurückkehren sollen. Nun, wenn das der
Fall ist, kann ich nur sagen: ‚Gern nach Ihnen!‘«
Hiermit ist nicht nur die nationalradikal argumentierende
Kontrahentin aus dem Felde
geschlagen, die sichtlich stolz auf die vornehme ‚normannische‘
Herkunft ist, sondern es wird ein wenig
bekanntes Detail der westeuropäischen Geschichte
aufgezeigt. Die römischen Legionen, welche ab Ende
des 3. Jahrhundert den Hadrianswall in Nordengland,
aber auch die Rheingrenze, den Limes und die Donau
im heutigen Deutschland, Österreich und der Schweiz
bewachten, waren in Ägypten ausgehoben worden,
genauer gesagt in Oberägypten, wo bereits seit pharaonischen
Zeiten Nubier und Ägypter miteinander
leben. Wie das ganze Land Ägypten war auch die nubische
Bevölkerung in dieser Zeit bereits weitgehend
christianisiert.

Mit den in Oberägypten ausgehobenen Truppen
übersiedelten Ende des 3. Jahrhunderts viele nubische
koptische Soldaten und ihre Familienangehörigen in die Gebiete der heutigen Schweiz, Deutschlands und
teilweise Österreichs. Sie gehörten damit zu den ersten
größeren und ortstabilen Kontingenten an Christen
hierzulande. Die Mehrheit unserer ersten Christen
waren also PoC und Black. In den Christenverfolgungen
der Kaiser Diokletian, Decius und Julian wurden
zahlreiche dieser oberägyptischen Soldaten und ihre
Angehörigen als Märtyrer hingerichtet, z. B. die besonders
in der Schweiz verehrten Heiligen Mauritius und
Verena. Aber auch in Deutschland stehen viele unserer
großen Kirchen unter dem Patronat und auf den
Gräbern dieser koptischen Märtyrer – so das Bonner
Münster, die romanische Kirche St. Gereon in Köln, der
Xantener Dom und viele weitere.

Waren die Ottonen woke?

Eine besondere Bedeutung erhält die Verehrung des
nubischen Kopten Mauritius als Schutzpatron des
Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – parallel
zum Patronat des Erzengels Michael. Dies führte
ab dem 11. Jahrhundert zu einer aufblühenden
Verehrung seiner Person – und der koptischen Offiziers-
Heiligen allgemein – im ganzen Reich. Die Verehrungsorte
des heiligen Mauritius finden sich bis
weit ins Baltikum hinein, z.B. in Tallinn und Riga. Und
die Hauptkirche der ottonischen Dynasten, der Magdeburger
Dom, wurde ihm und einer weiteren Ägypterin
geweiht, der heiligen Katharina von Alexandrien.
Mauritius wurde bereits von Karl dem Großen
als Schutzpatron seiner Armeen angesehen, aber nun
wurde er von Geschichtsschreibern der ottonischen
Zeit mit dem Ereignis in Verbindung gebracht, das
nationalkonservativen Historikern bis heute als Geburtsstunde
der deutschen Nation gilt – die Schlacht
Ottos des Großen gegen die Ungarn auf dem Augsburger
Lechfeld im Jahr 955.

Auch Karlheinz Weißmann schreibt dem
Gründungsmythos dieser Schlacht eine große
Bedeutung zu: Auf dem Lechfeld habe
sich im gemeinsamen Abwehrkampf der
fränkischen, bayerischen, sächsischen,
schwäbischen etc. Stämme die Idee einer
gemeinsamen Identität entwickelt, die forthin
als ‚deutsch‘ bezeichnet wurde. Otto ließ
seinem Heer das wichtigste Reichskleinod,
die ‚Heilige Lanze‘, mit der Christus am
Kreuz durchbohrt worden sein soll, vorantragen
und kämpfte unter dem Banner des
heiligen Erzengels Michael. Damit nimmt
die Idee eines christlichen Abendlands weiter
Kontur an. Der Historiker David Engels
zieht daraus den Schluss: Deutsch sein im
Sinne der Herkunftsidentität bedeutet auch
unter den Bedingungen der Moderne gewissermaßen
eine kulturelle Teilhabe an dieser
»ideologische(n) Situation der karolingischottonischen
Zeit.«

Offensichtlich wird von beiden Historikern
darunter ein Amalgam von ‚weißen‘
Männern (und Frauen) mit einer christlich
kodierten Militanz verstanden, die im steten
Abwehrkampf gegen kulturell und religiös
diverse Fremdmächte stehen. Wie oben
bereits angedeutet, sahen die Geschichtsschreiber
der ottonischen Zeit die Sache etwas
anders. Nach ihrer Zuschreibung soll
die Heilige Lanze im Besitz des heiligen
Mauritius gewesen sein und über diesen Bezug
wird ein Saint of Colour zum Role Model
christlichen Rittertums und zum Patron des
‚deutschen‘ Reiches aufgebaut. Die Kaiserchronik
von 1066 findet nichts dabei, diese
Konstruktion herzustellen. Der heilige Mauritius,
der zur römischen Zeit in der heutigen
Schweiz und dem Südwesten Deutschlands
lebte, steht somit an einer zentralen Stelle
der kulturellen Repräsentanz des Heiligen
Römischen Reiches Deutscher Nation.

Natürlich haben weder die »Heilige Lanze« noch ihre Zuschreibung an den heiligen
Mauritius mit historischen Fakten zu tun
– sehr wohl aber den mit narrativen Konstruktionen
kultureller Zugehörigkeit zu einer
Nation, die auf der Suche nach sich selbst
ist. Ebenso wenig kann von einer Wokeness
der ottonischen Geschichtsschreibung die
Rede sein. Aber sehr wohl wird deutlich,
dass die ottonischen Geschichtsschreiber
kein Aufhebens um race-Aspekte und Herkunftsidentitäten
machten, wenn es darum
ging, einen Menschen als kulturell zugehörig
anzusehen. Hier liegt der Unterschied zu
heutigen Historikern aus dem nationalradikalen
Spektrum, die zwar die Reichskleinodien
als wichtige Faktoren einer deutschen
Identitätsbildung sehen, die traditionelle
Zuschreibung der »Heiligen Lanze« an den
Nubier Mauritius aber verschweigen.

Für eine kulturell diverse Erinnerungskultur

Während meiner eigenen Recherchen zu
einem Beitrag über die Saints of Color für
den schulischen Religionsunterricht erschienen
drei Artikel in der Tagespresse
über eine Statue aus dem 13. Jahrhundert im
Magdeburger Dom, die den heiligen Mauritius
als afrikanischen Ritter zeigt. Ebenso
wie die Filmsequenz aus »Endeavour Morse
« heben auch diese journalistischen Beiträge
die migrationspolitische Bedeutung
hervor, welche die Anwesenheit Schwarzer
Menschen seit der Antike in den heutigen
Ländern Deutschland, Österreich und der
Schweiz besitzt. Dabei steht der Beitrag von
Thomas Gerlach in direktem Zusammenhang
mit der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
vom 6. Juni 2021, bei der ein stärkeres
Abschneiden der AfD befürchtet wurde, die
mit zuwanderungsfeindlichen Parolen warb.
Der Magdeburger Dom mit der Grablege
Otto des Großen steht vis-à-vis zum besagten
Landtag. Thomas Gerlach beschreibt die
800-jährige Mauritius-Verehrung in Magdeburg
als einen Lichtblick in dieser aufgeheizten
migrationspolitischen Debatte:

»Und so ist der Domplatz Versammlungsort
vieler politischer Gruppierungen – auf
der Nordseite der Landtag, im Süden der
Dom und zwischendrin viel Platz für Protest,
natürlich auch für die Aufzüge von AfD-Anhängern
und ‚Patrioten‘ gegen ‚Asyl-Chaos‘,
kulturelle ‚Überfremdung‘ und natürlich für
die Rettung des Abendlandes.«

Claudia Becker legt den Fokus dagegen
auf die Frage der kulturellen Repräsentanz
Schwarzer Menschen in Deutschland. »Die
um 1240 entstandene Mauritius-Skulptur
gilt als eine der frühesten realistischen Darstellungen
eines Schwarzafrikaners nördlich
der Alpen.« Nicht immer und nicht
überall blieb es aber bei solchen realistischen
und empathischen Darstellungen. Besonders
ab der späteren kolonialen Epoche finden sich zahlreiche Darstellungen des
heiligen Mauritius, die stereotype und teilweise
rassistische Züge aufweisen. Besonders
prominent wurde im Jahr 2020 die Auseinandersetzung
um das Wappenschild der
bayerischen Stadt Coburg, den sogenannten
»Coburger Mohren«. Bis heute streiten sich
in Coburg Menschen, die dieses Wappen als
verletzend empfinden, mit Verteidigern der
Tradition. Immerhin verbindet sich mit dem
Stadtwappen auch eine kulturpolitische Widerstandsgeschichte.
Während die Nationalsozialisten
den »Coburger Mohren« entfernen
ließen, weil er nicht in eine »deutsche
Stadt« passe, reaktivierten die Stadtväter
das traditionelle Wappen nach dem Zweiten
Weltkrieg, weil sie in diesem Punkt eine
andere Meinung vertraten. Claudia Becker
sieht in dieser Auseinandersetzung »auch
ein Stück überraschender Gedenkkultur.
Denn Mauritius zeigt, dass es neben all den
unfassbaren Auswüchsen von Rassismus
in der deutschen Geschichte auch das gab:
die Verehrung eines Schwarzen, der durchweg
mit positiven Eigenschaften verbunden
wird, mit Heldenmut und Standhaftigkeit,
mit Glaubensstärke, Mitleid und Opferbereitschaft«.

Der Beitrag des heiligen Mauritius zur Dekolonisierungsdebatte

Zum Abschluss dieses Beitrags sei die These
aufgestellt, dass eine Dekolonisierungsdebatte
in Deutschland solange erfolglos
bleiben wird, wie ‚deutsche‘ Identität über
die Abwehr unserer eigenen kulturellen Diversität
definiert wird – und solange der
Widerstand dagegen als Denkmalsturz gilt.
In diesem Sinne geht es bei der Dekolonisierungsdebatte
nicht nur um den Blick auf
den ‚kolonisierten‘ anderen und das ihm
angetane Unrecht. Vielmehr müssen auch
die eigenen Konstruktionen von »Zugehörigkeit
« rassismuskritisch geklärt werden.
Dies schließt eine Diskussion auf Augenhöhe um die Angemessenheit von Darstellungen
des heiligen Mauritius, der Saints of
Colour und aller PoC in Deutschland ein –
siehe Coburg. Grundsätzlich aber lässt sich
kein ursprünglicher Zustand einer exklusiv
‚weißen‘ christlichen Kultur in Deutschland
plausibel machen, zu dem kulturelle
Diversität als »fremder« Faktor nachträglich
hinzugekommen sei. Anders herum wird
ein Schuh daraus: Unsere ursprüngliche
kulturelle Diversität wurde in späterer Zeit
entweder verdrängt oder – wie beim sogenannten
»Coburger Mohren« – nur noch in
Form ihrer kolonialistischen Verzerrung erinnert.
Die Geschichte dieser ideologischen
Deprivation lässt sich von der deutschen
Geschichtsschreibung des ausgehenden 19.
Jahrhunderts bis zu den nationalradikalen
Historikern unserer Tage nachvollziehen.