Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Foto: Werner Baumann © Verlag des Bischöflichen Ordinariats

So könnten sich Staat und Kirche trennen

Das Verhältnis von Staat und Kirche ist durch die Missbrauchsfälle neu in den Fokus der Öffentlichkeit geraten... Die Ampelregierung hat nun vor, die Staatsleistungen abzuschaffen. Was bedeutet das?

Wie eng sind Ihrer Ansicht nach Staat und Kirche in Deutschland miteinander verknüpft – auf einer Skala von
eins bis zehn, wobei eins »gar nicht« und zehn »massiv« ist?

Ich würde sagen: drei. Wenn ich das ausführen darf: Nach dem Zweiten Weltkrieg war den Vätern
und Müttern des Grundgesetzes klar, dass beispielsweise die Schulbildung, Diakonie und andere
zivilgesellschaftliche Aufgaben nicht mehr allein in den Händen des Staates liegen sollen. Die Erfahrung
des totalitären Nationalsozialismus hatte gezeigt, dass der Staat nicht alles steuern sollte. Man
hat damals nach Kräften gesucht, die diese Leistungen erbringen könnten. Die Kirchen haben damals
90 bis 95 Prozent der Bevölkerung abgedeckt, und so waren sie beispielsweise als Träger von Schulen
und Krankenhäusern willkommen. Sie hatten ja, wenn sich auch viele Mitläufer in ihren Reihen
befanden, unter dem Naziregime gelitten: In den 30er- und 40er-Jahren sind Hunderttausende aus
den Kirchen ausgetreten im Kontext der nationalsozialistischen Ideologie, es gab massive Repressionen
für die öffentliche Religionsausübung. In der Nachkriegszeit erlebten die Kirchen deshalb
einen Boom, als eine ideologisch entkernte Gesellschaft nach Orientierung suchte. Die Kirchen waren
besonders sichtbar, mächtig und als Weltanschauung nahezu alternativlos, wenn man die genannten
Einrichtungen nicht wieder staatlich organisieren wollte. Unser geltendes Staat-Kirche-Verhältnis
bis hin zum Einziehen der Kirchensteuer ist nur so zu verstehen. Auch der Religionsunterricht an
allen Schulen wurzelt in dieser Situation. Zugleich sind Staat und Kirche klar getrennt. Es gibt weder
ein Hineinregieren des Staates in die Kirchen noch der Kirchen in den Staat, wie etwa bei einer
Staatskirche nach britischem Muster, wie sie bis vor Kurzem in vielen skandinavischen Ländern
existiert hat. Der deutsche Staat hat dagegen heute ein kooperatives Verhältnis zu den Kirchen und
Religionsgemeinschaften; ein Laizismus, also eine schroffe Trennung zwischen Staat und Religion
wie in Frankreich, in den USA oder auch in der Türkei ist aus der Erfahrung des Totalitarismus bei
uns ebenfalls nicht vorgesehen.

Gehen wir mal einzelne Punkte durch, wo Staat und Kirchen sich berühren – Sie haben die Frage der Kirchensteuer
bereits angesprochen.

Die Kirchensteuern werden seit 1919 zusammen mit den Einkommensteuern vom Staat erhoben. Sie
waren ursprünglich eine Erfindung der Fürsten, um das mittelalterliche Pfründensystem abzulösen.
Damals war das eine sehr pragmatische Entscheidung, da sich der Betrag, wie viel Kirchensteuern
von jedem Einzelnen gezahlt werden müssen, aus der Höhe der Einkommensteuer ergibt – das sind
aktuell in Rheinland-Pfalz 9 Prozent. Die Kirchen können ohne die staatliche Zusammenarbeit nur
sehr schwer Einsicht in die jeweilige Höhe der Einkommensteuer bekommen. Das ist die Logik, die
dahintersteckt. Zu fordern, dass die Kirchensteuer abgeschafft wird, hieße analog, dass man dem
Sport- oder Kleingärtnerverein verbieten würde, Mitgliedsbeiträge einzuziehen. Das ist natürlich Unfug.
Die Debatte kann also nicht darum gehen, die Kirchensteuer ganz abzuschaffen. Sondern man
kann höchstens darüber diskutieren, ob der Staat über seine Finanzämter die Kirchensteuer eintreibt
oder ob eine andere Lösung gefunden wird. Ein überzeugtes Kirchenmitglied ist ja auch deshalb Kirchenmitglied,
weil es die Kirche unterstützen will, und diese Unterstützung ist eben auch finanzieller
Natur, wie bei jeder Partei und jedem Verein.

Wie könnte denn ein anderes System des Geldeintreibens aussehen?

In der DDR zum Beispiel gab es seinerzeit ein anderes System. Dort haben die Kirchen die Kirchensteuer
eigenständig gemäß einem geschätzten Nettogehalt eingezogen – dieses Verfahren wurde aber
mit der Wiedervereinigung dem westdeutschen System angeglichen. Die Kirchen zahlen im Übrigen
Millionensummen an den Staat, um den Verwaltungsaufwand der Finanzämter zu refinanzieren – das
wird gern übersehen.

Lohnt sich das denn dann für die Kirchen? Könnte man nicht mit diesen Zahlungen ein eigenes System aufbauen?

Das wäre vermutlich möglich, ja. Aktuell wird der Kirchenbeitrag in Österreich so erhoben. Aber
dann könnte man die Höhe der Kirchensteuer nur schwer prozentual an die Höhe des Einkommens
koppeln. Wenn man also hier Staat und Kirche entflechten wollte, dann müssten die Kirchen beispielsweise
einen festen monatlichen Betrag ansetzen, den sie dann von ihren Gläubigen einziehen
würden.

Was halten Sie von einem freiwilligen Spendensystem?

Wenig. Wenn ich SPD-Mitglied bin, dann spende ich nicht an die SPD, sondern ich zahle einen
festgesetzten Mitgliedsbeitrag an die Partei. Spenden kann natürlich jeder so viel er will, auch an
die Kirchen, aber es geht ja darum, dass eine Organisation und eben auch die Kirchen zur Erfüllung
ihrer Verpflichtungen mit einem festen Monats- oder Jahresbetrag rechnen können müssen. Und eine
Mitgliedschaft bei einer Kirche bringt ja auch Vorteile, was die Nutzung ihrer Einrichtungen und die
Seelsorge angeht, quasi eine Flatrate für kirchliche Dienstleistungen – insofern müsste man auf jeden
Fall einen fixen Beitrag festsetzen. Und da erscheint mir die aktuelle Lösung gerechter zu sein als ein
fester Betrag, da sie sich flexibel nach dem jeweiligen Einkommen richtet.

Bleiben wir beim Geld, und kommen wir zu einem weiteren Punkt, wo Staat und Kirche miteinander verwoben
sind: beim Gehalt, das an Bischöfe gezahlt wird.

Das wird in jeder Diözese und in jedem Bundesland unterschiedlich gehandhabt. Vor allem in Bayern
gibt es besonders hohe Zahlungen; das hat damit zu tun, dass die Wittelsbacher, das bayerische
Fürstengeschlecht, Anfang des 19. Jahrhunderts massivst von den Enteignungen – und nichts anderes
war der Reichsdeputationshauptschluss 1803 – profitiert haben. Je nach Menge der Immobilien, die zunächst ohne Gegenleistungen
an die damaligen Staaten, Herzogtümer
und Fürstentümer gefallen sind, werden
Ausgleichszahlungen geleistet – die sogenannten
Staatsleistungen, also pauschale
Zahlungen an die Bistümer, und gebundene
Zahlungen wie zum Beispiel die Gehälter für
Bischöfe. Ich halte persönlich nichts davon,
dass Bischofs- und andere Gehälter vom
Staat gezahlt werden – das sollte schon in
der Weimarer Reichsverfassung abgeschafft
werden, wie auch alle anderen Staatsleistungen.
Die Kirchen warten aktuell auf einen
Vorschlag der Ampelregierung, wie die
Staatsleistungen abgelöst werden können.
Das steht im Koalitionsvertrag. Staatsleistungen
erhalten im Moment noch alle Bistümer
ebenso wie die evangelischen Landeskirchen.

»Wenn die
katholische Kirche
nicht selbst handelt,
könnte der Staat
die Möglichkeit des
dritten Weges ganz
beenden«

Joachim Valentin

Die Besoldung der Bischöfe gilt auch für die emeritierten Bischöfe, richtig?

Ja, sie werden natürlich wie eine Pension bis zum Tod bezahlt. Die Besoldungshöhen liegen in
der Regel bei den gehobenen Ministerialbeamtengehältern in den Landesregierungen, die sind nach
den gängigen B-Besoldungen – also den höheren Beamtenbesoldungen – berechnet (Anm. d. Red.:
In Rheinland-Pfalz liegt die Besoldung in etwa bei 11200 Euro.). All diese Entscheidungen rund um
die Staatsleistungen sind auf der Bundesebene grundgelegt, sie müssen aber in jedem Bundesland
einzeln exekutiert werden, weil die Bundesländer die Staatsleistungen zahlen und nicht der Bund.

Entsprechend müsste die Entscheidung, die Staatsleistungen abzuschaffen, eben im Bund fallen.

Ganz genau. Die aktuelle Situation zwischen Bund und den Kirchen kann man sich mit folgendem
Vergleich erklären: Stellen Sie sich vor, Sie haben viele, viele Jahre zur Miete in einer Wohnung gelebt
und wollen diese Wohnung nun gern kaufen. Nehmen wir mal an, Sie haben monatlich 1000 Euro Miete
bezahlt. Wenn Sie dem Besitzer nun die Wohnung abkaufen wollen, würde der ja nicht sagen: »Ich
verrechne alles, was Sie seit Jahrzehnten an Miete gezahlt haben – zahlen Sie also noch einmal 1000
Euro, dann sind wir quitt, und die Wohnung gehört Ihnen.« Nein, der Besitzer würde zum Beispiel
sagen: »Diese Wohnung kostet eine halbe Million Euro, also bezahl mir bitte diese halbe Million.« Wobei
hier sicher Kulanz auf beiden Seiten notwendig ist, um eine einvernehmliche Lösung zu erzielen.

In der aktuellen Debatte hört man ja immer wieder das Argument, dass nach all den Jahrzehnten mit Staatsleistungen
die Kirchen doch schon längst entschädigt sein müssten.

Hier greift wieder das Beispiel mit Miete und Wohneigentum. Wenn man die Staatsleistungen abschaffen
will, muss man das mit Augenmaß tun. Die Kirchen könnten natürlich auch nicht einfach
alle Werte zusammenrechnen, die sie seinerzeit bei der Enteignungswelle verloren haben – so etwas
würde jeden Staatshaushalt sprengen, da wären wir auf jeden Fall im hohen Milliardenbereich. Wenn
sich jetzt also Staat und Kirchen auf einen Betrag einigen, dann wird der sehr viel niedriger ausfallen
als das, was die Kirchen damals an Werten verloren haben. Aber er wird auch höher als Null sein. Das
ist nun einfach eine Frage der Verhandlung zwischen den Kirchen und der Bundesregierung.

Die Kirchen wünschen ja selbst das Ende der Staatsleistungen.

Exakt, es gibt vonseiten der Kirchen aktuell keinerlei Widerstand gegen ein schon lang gefordertes
Abschlussverfahren.

Warum eigentlich? Es ist doch nur zu ihrem Nachteil.

Weil die Kirchen vernünftiger sind, als manche Leute denken. Natürlich werden Sie in den Finanzabteilungen
der Bistümer Leute finden, die sich die Haare raufen und fragen, woher sie denn
ansonsten das Geld für die laufenden Ausgaben nehmen sollen. Am schlimmsten davon betroffen
sein werden die ostdeutschen Bistümer, die wegen der geringeren Gläubigenzahl ihre Administration
und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gemeinden zu einem viel höheren Teil aus den
Staatsleistungen bezahlen als die westdeutschen Bistümer. Im Moment könnten die westdeutschen
Bistümer über ihre Kirchensteuern und Rücklagen einen kompletten Ausfall der Staatsleistungen
vermutlich eher verkraften als die ostdeutschen. Hier wird man sicher solidarisch sein müssen im
Sinne einer Intensivierung eines schon existierenden »Bistümerfinanzausgleichs«.

Blicken wir abschließend noch aufs kirchliche Arbeitsrecht.

Beide Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände sind Nutznießer des »dritten Wegs«. Man will damit
deren internen Logiken als Dienstgemeinschaften, die keinen Tarifstreit zulassen, Rechnung tragen.
Wir haben auch in anderen Bereichen der Gesellschaft Sonderregelungen, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer
ein besonderes Verhältnis verbindet. So dürfen auch Beamte zum Beispiel nicht streiken.
Was die Gehälter angeht, versuchen die Bistümer, sie nach Möglichkeit an die entsprechenden
Landesgehälter anzupassen. Der Caritasverband zahlt in der Regel sogar durchweg höhere Tarife
als vergleichbare Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt. Was massiv in der Diskussion steht und was
sich jetzt wohl auch ändern wird, ist das Kündigungsrecht, das in der sogenannten Grundordnung
verankert ist. Da geht es um die Loyalitätsverpflichtung der Mitarbeiter und die persönliche Lebensführung.
So kann bisher einem Mitarbeiter gekündigt werden, wenn er offen homosexuell lebt, oder
wenn er nach einer Scheidung wieder zivil neu heiratet. Die Scheidung allein reicht im Übrigen nicht
aus. Hier haben nach der Initiative »#outinchurch« viele Bistümer das Unrecht ihrer bisherigen Arbeitsregelungen
gesehen und setzen die Grundordnung bis zu einer grundlegenden Änderung aus. Die
meisten Diözesen haben aber auch bisher kaum Kündigungen aus diesen Gründen ausgesprochen.

Erwarten Sie, dass das gesamte katholische Arbeitsrecht zur Diskussion gestellt wird?

Zurzeit ist alles möglich. Wenn die katholische Kirche hier nicht selbst handelt und herrschende
Diskriminierungen schnell und dauerhaft abschafft, könnte der Staat die Möglichkeit eines dritten
Weges ganz beenden. Ich meine, die Passagen über die persönliche Lebensführung sollten einfach
gestrichen werden. Dann wären auch Kündigungen mit dieser Begründung nicht mehr möglich.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Rhein-Zeitung. Erstveröffentlichung: 19.03.2022