Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Foto: © RTL/Frank W. Hempel

Leiden in postchristlicher Popkultur

RTL-Event »Die Passion«: Protokoll eines denkwürdigen TV-Experiments

Schon immer wurde die bekannte Leidensgeschichte
für die Osterzeit Jesu medial aufbereitet.
An die überkommenen Passionsspiele
und Hollywood-Blockbuster reiht nun ausgerechnet
der Kölner Privatsender RTL die »größte Geschichte
aller Zeiten« als massentaugliches Mega-Live-Event.
Statt Charlton Heston oder Max von Sydow präsentiert
der Sender TV-Urgestein Thomas Gottschalk mit
zahlreichen mehr oder weniger bekannten RTL-Reality-
Stars und Sängern, um die 2000 Jahre alte Geschichte
auf eine »noch nie dagewesene Art« in die
heutige Zeit zu versetzen.

Ursprünglich war das aus den Niederlanden stammende
Großspektakel schon für 2020 geplant, musste
aber coronabedingt verschoben werden. Das Interesse
ist nun groß. Auf dem ausverkauften Essener Burgplatz
versammeln sich 4900 Zuschauer – in Gruppen,
die sich eher selten begegnen – neugieriges Theologen und
Gemeindeklientel und das tendenziell jüngere
RTL-Fan-Publikum. Ob sich Letzteres für das pastoral
niederschwellige Rahmenprogramm interessiert, mit
dem die Essener Kirchen das Projekt in bester Kollateral-
Nutzen-Absicht über den Tag hinweg begleiten,
ist eher fraglich. In sicherer Distanz auf dem Balkon
eines angrenzenden Restaurants verfolgt der Bischof
von Essen mit seiner Führungsentourage das Spektakel.
Bischof Overbeck hat zuvor verlauten lassen,
dass er ein Angebot erwarte, »sich mit der Leidensgeschichte
Jesu auseinanderzusetzen«. Diplomatisch
ergänzt er, dass jeder »für sich selbst entscheiden
könne, ob dieses TV-Event der richtige Rahmen dafür
ist«. Auf der riesigen Bühnenkonstruktion wartet derweil
eine weißgekleidete zwölfköpfige Band und der
25-Personen-Gospelchor. Es kann also ein spannender
Abend werden. Aber wieso überhaupt hier in Essen?
Jacco Doornbos, der Erfinder des Schauspiels, sieht
die Verbindung darin, dass »Sterben und Wiederauferstehen
in der DNA« der (früheren) Industriestadt
liege. So wisse die Stadt, was Leiden bedeute. Für viele
Essener mag dies nachvollziehbar sein, für die TV-Zuschauer
indes wenig glaubhaft, zumal in den späteren
Einspielern stets die attraktivsten touristischen
Hotspots der Stadt zu sehen sind – einschließlich der
Schlemmermeile.

Neuauflage von »Wetten, dass …?«

Punkt 20:15 Uhr: Mit Spannung erwartet,
betritt Thomas Gottschalk zur besten Showtime
in entsprechender Manier die Bühne.
Der frühere katholische Messdiener und
Lektor der Kulmbacher St. Hedwigskirche
erklärt das Anliegen der Show: Es gehe um
einen »Reload« der Geschichte, die zwar unsere
Kultur geprägt habe, die aber vor allem
junge Menschen – wohl die Zielgruppe des
Senders – heute kaum mehr kennen. Dabei
gehe es doch ganz aktuell »um Freundschaft,
Vergebung und Liebe«. Gleichzeitig beruhigt
er, da hier weder ein Gottesdienst noch gefaltete
Hände zu erwarten seien. Ob gläubig
oder nicht, alle sollen sich angesprochen
fühlen. Wenn der 72-jährige Showmaster für
seine Moderation immer wieder auf Jugendsprache
zurückgreift, wirkt dies mitunter
zwar »cringe« – schafft aber z. T. interessante
Deutungen. So z. B., wenn er Jesus als »Influencer
« seiner Zeit bezeichnet, für den die
Autoritäten die »Security« hochfahren. Auch
so stets nachvollziehbar erklärt er die Motive
der handelnden Personen.

20:20 Uhr: Im ersten Einspieler tritt Jesus
auf, gespielt vom ersten DSDS-Gewinner
Alexander Klaws, der bereits in der Aufführung
von Andrew Lloyd Webbers Musical
»Jesus Christ Superstar« Erfahrungen als
Heiland machte. Passend dazu war er zuvor
als Winnetou und Tarzan (!) zu sehen. Umweltbewusst
findet der fröhlich inszenierte
Einzug in die Stadt in der Buslinie 155 statt.
Die dem Zeitgeist entsprechend divers besetzte
Jüngerschar – hier konsequent als
»Freunde Jesu« apostrophiert – trifft sich
am Bahnhof. Neben Laith Al-Deen als Petrus
und »Bergdoktor« Mark Keller als Judas
spielen u.a. der Trompeter Stefan Mross, der
»Dschungelkönig« Prince Damien, die Brisant-
Moderatorin Mareile Höppner sowie
Samuel Koch und seine Frau Sarah weitere
Jüngerinnen und Jünger. Andreas Bouranis
Hymne »Auf uns« lässt zu Anfang ein Feuerwerk
an Endorphinen versprühen. Noch
»geht hier jeder für jeden durch´s Feuer«.
Das Publikum wird von der euphorischen
Stimmung mitgerissen, die durchaus Analogien
zum biblischen Einzug in Jerusalem
aufweist. Dass sich dieser »Moment nicht
einfrieren« lässt, ahnen all jene, die die Geschichte
kennen.

Durch das gleichzeitige Spiel der Band und
den Background-Gesang des Chors auf dem
Burgplatz wird geschickt ein Live-Charakter
erzeugt, dabei wurden die eingespielten
Szenen bereits im Winter 2020 aufgezeichnet,
was u. a. das Auftauchen von Gil Ofarim
als weiteren Jünger erklärt, der trotz des
mit ihm verbundenen noch unaufgeklärten
Antisemitismusskandals eben nicht herausgeschnitten
oder verpixelt wird – allein sein
Live-Auftritt entfällt. Die schlechte Akustik
und die eingeschränkte Sicht auf dem Burgplatz
machen jedoch klar: Das Ganze ist einzig
und vor allem als TV-Produktion gedacht,
das Live-Publikum ist lediglich Staffage.

»Die dem Zeitgeist
entsprechend divers
besetzte Jüngerschar trifft
sich am Bahnhof«

Paul Platzbecker

20:25 Uhr: Regelmäßige Live-Auftritte zwischen
Moderation und Einspielern hat allein
Ella Endlich als Mutter Jesu. Deren Adaption
des Songs »Wie schön du bist« – eine
Liebeserklärung von Sarah Connor an ihren
pubertierenden Sohn – will an dieser Stelle
der Passion indes nicht so richtig passen,
wenngleich der Verweis auf »all deine Narben
« und den abgeebbten Applaus Dunkles
erahnen lässt.

20:30 Uhr: Jesus und seine Jünger erreichen
das Einkaufszentrum Limbecker Platz.
Die euphorischen Kinder, die den Star des
Abends erkennen und Selfies machen wollen,
stellt Jesus als Beispiel vor. »Wer wie so
ein Kind wird, der ist unter euch der Größte
«. Mit dem Messiasbekenntnis lässt Petrus
erkennen, wer Jesus »wirklich ist«. Schade,
dass diese durchaus passende Zeile in Adel
Tawils Smash-Hit »Du erinnerst mich an
Liebe« von Laith Al-Deen im Duett mit Jesus Klaws sehr schwach gesungen wird. Die Frage »Wozu der Kampf um Macht und Geld, …
wenn ich doch gehen muss« bereitet die Leidensankündigung Jesu vor, die ganz biblisch auf
breites Unverständnis – auch beim singenden Petrus selbst – stößt.

20:35 Uhr: Kostprobe des speziellen Gottschalk-Humors mit RTL-Bezug. Jesus habe sich
doch dieser Bedrohung in seiner Allmacht mit dem Ruf »Holt mich hier raus, ich bin ein
Star« entziehen können. Das Lachen entspannt. Anschließend Schalte zur Mitmachaktion,
was unfreiwillig an eine »Außenwette« erinnert, die den Moderator einst berühmt gemacht
hat. Menschen aus Essen und Umgebung, die sich zuvor dafür gemeldet haben – ob religiös
oder nicht –, tragen ein sehr schweres, leuchtendes 4x6 m großes Neonkreuz quer durch die
Stadt zur Hauptbühne. Matthias Alberti, Geschäftsführer der Constantin Entertainment,
hatte zuvor erklärt, dass es sich hierbei um eine »echte kirchliche Prozession« handle, die
»auch in den Büchern verankert« sei. Gottschalk beruhigt erneut, keiner schwenke hier ein
Weihrauchfässchen. Die Aktion sei vielmehr ein Zeichen dafür, dass jeder von uns ein Kreuz
zu tragen habe. Dies gilt dann z. B. für Janina, die die Reporterin Annett Möller nach ihren
Beweggründen fragt. Es folgt ein verstörender und ausschweifender Erfahrungsbericht von
einer Erleuchtung, die Janina im Rahmen der Heilung ihres kranken Mannes gemacht habe.
Ihre Botschaft: »Gott ist bei Euch – ihr müsst dran glauben und die ganze Liebe reinstecken
«. Applaus beim Publikum für dieses Zeugnis, das dem Voyeurismus Nahrung gibt. Im
Anschluss dankt David mit den Tränen ringend für seine Familie und für Friede, Freiheit
und Sicherheit! Am hinteren Teil des Kreuzes erzählt schließlich Murat von seiner Faszination
für die Jesusgeschichte. Er sehe hier eine Art interreligiöse Veranstaltung, auf der alle
Menschen Brüder sind. Anerkennender Applaus auf dem Platz!

Bitte tut das immer wieder zur Erinnerung an mich

20:40 Uhr: Nächste Einspielszene – Zeit fürs Abendmahl! Jesus besorgt an einer Imbissbude,
die in Essen vom Starkoch Nelson Müller betrieben wird, fünf Brote und zwei, nein, keine
Fische, sondern im Ruhrpott – Currywürste. Ob die biblische Anspielung auch von dem
erschlankten Reiner Calmund verstanden wird, der mit offenem Mund danebensteht, muss
unbeantwortet bleiben. Zweifelsohne versteht es der Sender, die ernste Handlung durch
erfrischende Gags aufzulockern – Passion im Unterhaltungsfernsehen. In seinem weißen
Flauschpulli – Klaws wollte bewusst auf »Gewand und lange Haare« verzichten – betritt
Jesus ein Restaurant, wo er zum »Pessachmahl« Brot und Wein verteilt. Es folgt eine der
stärksten Szenen des Abends, zumal das im Wechsel gesungene »Hinter dem Horizont« von
Udo Lindenberg im Detail interessante Deutungen evoziert. Unter den »Freunden für die
Ewigkeit« ist es z. B. Judas, der die »Wolken nicht gesehen« hat. »Zusammen sind wir stark«
erklingt es noch, als der Verräter schon ins Polizeiauto steigt. Und auch Petrus beteuert
wieder mal seine Treue, da sich doch »zwei wie wir nicht verlieren« können. Wenn Jesus
dem gelähmten Samuel Koch das Brot eher beiläufig in den Mund steckt, erinnert das unfreiwillig
schon an Mundkommunion. Die Schnitte zum inzwischen mehr und mehr emotionalisierten
Live-Publikum verstärken die Wirkung noch.

20:47 Uhr: Wieder live auf dem Burgplatz – die Mutter Jesu tritt in ihrem grünen Wollkleid
erneut auf die Bühne, um mit Silbermond um Sicherheit zu bitten, in einer »Welt, die nicht
sicher scheint«. Das sind Stichworte, die aktueller nicht sein könnten und das Publikum
entsprechend mitreißen, in den biblischen Erzählfluss passen sie hingegen weniger.

20:50 Uhr: Nachdem Judas Jesus bei der
Essener (!) Polizei verraten hat, ringt er gefährlich
auf einem Vordach liegend mit sich
und seinen Gefühlen. Das gesanglich leider
schwach vorgetragene »Durch den Monsun«
von Tokio Hotel gibt dazu einen gewissen
Einblick: Judas sieht sich »am Abgrund« in
der Hoffnung, dass hinter der »Tür alles gut
wird«. Gottschalk bietet im Anschluss gleich
mehrere existentiell-theologische Deutungen
für die Motive des Verräters an.

Annett, wo seid ihr?

20:55 Uhr: Erneute Schalte zum Kreuz, das
die Schlemmermeile verlassen hat: Annett
Möller stellt das ukrainisch-russische Paar
Olga und Cedrick vor. Für die beiden sei das
Kreuz ein Zeichen der Versöhnung und der
Erlösung – was sie sich für ihr Volk ebenfalls
wünschen. Passt! Applaus! Daniel erzählt
von seiner Bekehrung, die mit einer
spektakulären Verwandlung einhergegangen
sei. Das sei eine »schöne Geschichte«, kommentiert
die sichtlich überforderte Reporterin,
während eine süßliche Synthesizermelodie
die Live-Geständnisse untermalt, die
den Betroffenen sicherlich einen unvergesslichen
Fernsehmoment bescheren.

21:05 Uhr: Die erste Werbepause des Abends.
Während es auf dem Burgplatz der Gospelchor
zumindest schafft, die wohlige Stimmung
zu halten, muss eine solche Unterbrechung
der Leidensgeschichte für die
Zuschauer zu Hause geradezu absurd sein.
Anschließend fädelt der Moderator die (neu
dazugekommenen) Zuschauer geschickt wieder
in Anliegen und Handlung des Schauspiels
ein – das wirkt ein wenig wie Schulfernsehen,
erleichtert aber das Mitkommen,
zumal es auf den dramatischen Höhepunkt
zuläuft.

21:15 Uhr: Die Gethsemane-Szene: Statt unter
Ölbäumen ringt Jesus verzweifelt mit
sich im dürren Birkenwald an der Zeche
Zollverein. Die Verquickung des biblischen
Texts mit Adel Tawils »Ist da jemand« hat
Gänsehaut-Potential. So, wenn sich Jesus an
den »Himmel ohne Farben« wendet und auf Knien nach jemandem fleht, der »ihm die Schatten von
der Seele nimmt« und mit »ihm ans Ende geht«. Biblisch
korrekt betet er sich aus dem Zweifel am Ende in
die Zuversicht, dass ihn da jemand »sicher nach Hause
bringt«.

21:20 Uhr: Zurück zur Live-Szenerie, in der nun auch
der Dom einbezogen wird. In dessen mystisch illuminiertem
Atrium wandelt die Mutter Jesu mit Udo
Jürgens´ Schlager »Immer wieder geht die Sonne auf«
– hier haben die Kreativen des Senders deutlich danebengegriffen.

Verhaftung vor der Kokerei

21:25 Uhr: Vor der imposant illuminierten Kulisse der
Essener Kokerei – ebenfalls Weltkulturerbe – kommt
es zur Konfrontation zwischen Jesus und Judas, der
unter Sirenengeheul mit der Essener Polizei anrauscht.
Dass die Ordnungshüter somit als Erfüllungsgehilfen
eines gewalttätigen Fremdherrschaftsregimes fungieren,
erscheint vor dem Hintergrund immer noch grassierender
Verschwörungstheorien und Reichsbürgerfantasien
keinesfalls unproblematisch.

Im folgenden Duett inszenieren Judas und Jesus die
»Symphonie« von Silbermond als Abschiedslied nach
einer gescheiterten Beziehung. Wenn nichts »mehr zu
reden« ist, ist es »besser zu gehen«. Diese Liedauswahl
verflacht an dieser Stelle die Aussage der biblischen
Perikope. Noch schwerer wiegt, dass die schauspielerische
Leistung der Realitystar-Jüngerinnen und
-Jünger und erst recht die der Laien-Polizisten in dieser
komplexen Phase der Handlung deutlich an ihre
Grenzen kommen. Das ist spätestens der Moment,
an dem die parallel agierende Twitter-Community an
Fahrt aufnimmt: »Endlich macht die Essener Polizei
dem Irrsinn ein Ende«, witzelt Jan Böhmermann.
»Liebe Kirche, ich möchte aus RTL austreten«, fügt ein
anderer hinzu. Allein der aus verschiedenen Trash-
TV-Formaten zusammengesetzte Cast der Show birgt
Verwitzelungspotential, das sich viele nicht entgehen lassen wollen. Allein das Zuschauen lasse das »Leiden
Christi wahrhaftig am eigenen Körper spüren. Experiment
geglückt!«

»RTL versteht es, ernste Handlung
durch erfrischende Gags
aufzulockern: Passion
im Unterhaltungsfernsehen«

Paul Platzbecker

21:30 Uhr: Nach der nächsten Werbepause führt Gottschalk
erneut kurz in das »außergewöhnliche Fernsehexperiment
« ein und legt den Fokus auf den verängstigten
Petrus. Dieser läuft in einem Wechselbad
der Gefühle durch die Essener Margarethenhöhe und
verleumdet Jesus gleich drei Mal. Das Deutungsangebot
aus Jupiter Jones »Still« erschließt sich schon
deswegen nicht, weil Laith Al-Deen sich nun endgültig
als einer der schlechtesten des Abends entpuppt.
Der Auftritt von Ingolf Lück, der Petrus ebenfalls als
Jünger Jesu konfrontiert, zeigt, dass RTL nicht nur
die jüngeren Zuschauer ansprechen will. In den beiden
»Schächern«, zu denen Jesus gefesselt ins Polizeiauto
gesetzt wird, erkennen kundige RTL-Zuschauer
Schurken aus anderen TV-Formaten, u. a. die finster
blickende Katy Karrenbauer aus »Hinter Gittern«. Um
uns macht sich eine heitere Verwunderung breit.

21:35 Uhr: Die Spannung steigt weiter und Ella Endlich
warnt live singend vor der »Gefahr, die aus der
Dunkelheit schnellt«. Sie sei die »Letzte, die um dich
weint«. Dieses allzu bekannte Lied verwundert, zumal
es von Xavier Naidoo stammt, dem inzwischen angeblich
geläuterten Verschwörungspromi. Doch das
Publikum stört dies nicht weiter. Anschließend läutet
Gottschalk das Finale ein, indem er schon mal auf
den römischen Ordnungshüter Pontius Pilatus verweist,
der ironischerweise vom »letzten Bullen« Henning
Baum dargestellt wird. Dass dieser aus Essen
stammt, bringt Zwischenapplaus.

21:45 Uhr: Eine letzte Schalte zur Kreuzprozession und
den sicherlich geskripteten Statements. Für Markus,
einen tätowierten und Body-gebuildeten Pastor, spielt
der Glaube im Umgang mit schwierigen Jugendlichen
eine entscheidende Rolle. »Pumpen und glauben« gehören
für ihn zusammen. Der Studentin Salome hat
der via Podcast gestärkte Glaube durch die schwierige
Coronazeit geholfen. Der frühere Atheist Antonio
hat schließlich ebenfalls durch ein Kreuz-Video eine
»übernatürliche« Liebe und Vergebung erfahren. Die
Einblendung bewegter Gesichter und gefalteter Hände
zeigen, dass dies bei vielen Zuschauern ankommt.
Jetzt mutiert der Privatsender endgültig zu Bibel-TV.
Einzig die zumeist dümmlichen Kommentare der Reporterin
(»Ich muss aufpassen, dass ich das Kreuz nicht in den Rücken bekomme«) schaffen unbeabsichtigt
Distanz.

Was ist schon Wahrheit?

22:00 Uhr: Der Höhepunkt live auf dem Burgplatz.
Gottschalk beschreibt eindringlich den sich aufschaukelnden
tödlichen Konflikt und die Rolle des
römischen Statthalters darin. Schon während der gefangene
Jesus von zwei Polizisten vorgeführt wird,
wäscht sich Pilatus auf der Bühne in gläsernem Gefäß
die Hände – wie »so viele, die sich heute aus der Affäre
« ziehen wollen. Pilatus, der sich vor jedem Aufruhr
fürchtet, trägt einen an Donald Trump erinnernden
schwarzen Anzug mit roter Krawatte, während Jesus
in einen orangen Guantánamo-Overall gekleidet
ist – die Anspielungen sind allzu offensichtlich. Der
Anklang an den früheren amerikanischen Präsidenten
lässt besonders die aufgeworfene »Wahrheitsfrage«
interessant werden. Die Wahrheit setzt Trump/Pilatus
allein mit der Machtfrage gleich. Mark Forsters
Hit zwischen »Bauch und Kopf« bildet die Grundlage
für ein Duett zwischen Jesus und Pilatus – der erste
Live-Gesang der beiden. Um aus der Zwickmühle
herauszukommen, lässt der Statthalter die Wahl zwischen
Jesus und Barabbas – von der Twitter-Gemeinde
genüsslich als typisches RTL-Voting verspottet.
Die Zuschauer auf dem Burgplatz skandieren mit
großer Ernsthaftigkeit den vorher eingeübten Sprechchor,
während das frühere »Vorstadtkrokodil« Martin
Semmelrogge sichtlich seinen kurzen, (fast) wortlosen
Beitrag als Verbrecher genießt.

22:10 Uhr: Herzzerreißend ist das letzte Abschiedsduett
zwischen Mutter und Sohn auf offener Bühne.
»Einmal sehen wir uns wieder, einmal schaue ich
auch von oben zu«, versprechen sich beide mit einem
Lied von Joel Brandenstein, während Jesu endgültig
von den Revier-Polizisten zur Hinrichtung abgeführt
wird.

22:12 Uhr: Doch vor der Kreuzigung gibt es (un-)passender
Weise noch eine letzte Werbepause. Durchschnaufen!
Danach kommt das poppig leuchtende
Kreuz untermalt von schwülstig dramatischer RTL-Musik
auf dem Burgplatz an. Wird jetzt etwa die Kreuzigung
des Unschuldigen auf dem Burgplatz nachgestellt?
Noch während das Neonkreuz an die Bühne
gestellt wird, tritt Henning Baum aus seiner Rolle als
Pilatus heraus und beschreibt stattdessen mit Bibel
und rostigem Nagel in den Händen für die, die Games of Thrones lieben, die »schmutzigen Details«
dieser grausamen Hinrichtungsmethode. Am
Ende ein Blitzlichtgewitter und Jesu Verlassenheitsschrei
aus dem Off – eindringlich,
wenn auch nahe an der Kitschgrenze. Daran
schrammt auch das letzte Lied der Mutter
Jesu, wenn sie zusammen mit dem Gospelchor
die Unheilig-Hymne »Geboren um zu
leben« singt. Hier endet abrupt die Handlung:
Keine Kreuzigung, keine Grablegung
und erst recht keine Auferweckung.

22:20 Uhr: Stattdessen baut Gottschalk erneut
Brücken in ein offenes Verständnis. Es
bleibe den Zuschauern überlassen zu glauben,
was »Ostern in den Kirchen gefeiert«
wird. Der Moderator formuliert die tröstliche
Quintessenz: »Wenn Jesus fähig war,
sein Leben hinzugeben, sollten doch auch
wir in der Lage sein, den Nächsten zu lieben
wie uns selbst, Hoffnung und Liebe anstelle
von Angst zu verbreiten und ein bisschen
mehr aneinander festzuhalten«.

22:25 Uhr: Überraschendes Schlussbild – Jesus
steht weiß gekleidet mit ausgebreiteten
Armen auf dem hohen Dach des benachbarten
Kinos – nun doch deutlich als Auferstandener
zu erkennen. Im Song »Halt dich
an mir fest, wenn dein Leben dich zerreißt«
von Revolverheld kulminiert gleichsam die
Aussage der gesamten Passionsgeschichte.
Christologisch gesprochen wäre dies in der
Tat der entscheidende Ankerpunkt. Bei diesem
Lied kommt schließlich noch einmal
das gesamte Ensemble auf die Bühne. Nur
einer fehlt: Gil Ofarim.

Was bleibt?

Was nehmen wir mit von diesem denkwürdigen
Abend in der Karwoche 2022? Der Bischof
von Essen erklärt später, dass er zufrieden
sei mit der Aufführung. Das Ereignis
habe ihn und ganz viele berührt. Zufrieden
ist auch RTL mit der Quote: Knapp 3 Millionen
Zuschauer haben der Übertragung aus
der Ruhrmetropole zugeschaut, der Marktanteil
in der besonders relevanten jungen
Zielgruppe war besonders erfreulich. Von
daher ist es möglich, dass das Experiment im nächsten Jahr wiederholt wird. Einem Privatsender,
der primär auf Unterhaltung hin orientiert ist, kommerzielle
Absichten beim »Ausschlachten« religiöser
Gefühle vorzuwerfen, wie das im bürgerlichen Feuilleton
etwa Christian Rother vom DLF versucht, greift zu
kurz. Auch trifft der gelegentliche Vergleich etwa mit
den Oberammergauer Passionsspielen nicht, da diese
sich in Form, Gestaltung und Zielgruppe grundlegend
unterscheiden. Im permanenten Changieren zwischen
theologischer Abrüstung (Jesus als normaler Mensch,
kein Weihrauch und Händefalten etc.) und deutlichen
theologischen Anklängen (der Auferstandene auf dem
Dach) werden gerade für ein überaus plurales und
religionsdistanziertes Milieu neue Zugänge zur authentischen
Osterbotschaft geschaffen. Hierbei hilft
gerade auch der Rekurs auf die zahlreichen A- und BPromis
der sogenannten RTL-Familie, zu denen das
entsprechende Publikum augenscheinlich eine besondere
Beziehung pflegt. Einigen der eingängigen Popsongs
gelingt es dabei in der Tat, im Sinne einer »Verheutigung
« korrelativ interessante Zugänge zu einer
Geschichte zu bahnen, deren Interpretation in einer
zunehmend »post-christlichen« Gesellschaft eh nicht
mehr bei den Kirchen liegt. Das Event weckt Emotionen
und stellt tiefe Fragen. So auf die indiskreten, den
Voyeurismus bedienenden Bekehrungsbekenntnisse
verzichtet wird, wäre das Format für die Zukunft ausbaubar.
Die Rekordreaktionen auf Twitter können hier
ein Ansporn sein.

»Das Event weckt Emotionen
und stellt tiefe Fragen«

Paul Platzbecker