Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Dornenkrönung, Foto: Brigitte Maria Mayer / Wohnort Gottes, Berlin 2019.

Für ein menschenwürdiges Zusammenleben

Theologie und Kirche zwischen Dekolonialisierung, Post- und Neokolonialismus

Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein
Leben für seine Freunde hingibt« (Joh 15,13).
Mit diesem Zitat aus dem Johannesevangelium
erinnerte Wladimir Putin in diesem Jahr beim
Jahrestag der Annexion der Krim an die gefallenen
russischen Soldaten. Das Beispiel zeigt, dass die Vereinnahmung
biblischer Texte zur Legitimation (neo)
imperialer Machtansprüche auch im gegenwärtigen
Europa keineswegs der Vergangenheit angehört.

Tatsächlich ist das Verhältnis der christlichen Kirchen
zu den Imperien der Vergangenheit und Gegenwart
sowie insbesondere zum europäischen Kolonialismus
komplex. Steht im Kontext der gegenwärtigen
Invasion der Ukraine vor allem die russisch-orthodoxe
Kirche im Fokus der Aufmerksamkeit, so waren
es während des Kolonialismus Spaniens und Portugals
sowie später Frankreichs, Englands, Deutschlands
und anderer europäischer Mächte vor allem
die katholische und die protestantischen Kirchen, die
zur theologischen Legitimation kolonialer Unternehmungen
beitrugen.

Der Aufarbeitung der komplexen Verflechtungen
von Christentum und Kolonialismus – sowohl historisch
wie mit Blick auf das koloniale Erbe in der
Gegenwart – widmen sich post- und dekoloniale Theologien.
Koloniale Kontinuitäten sollen dabei sichtbar
gemacht, eurozentrische und rassistische Verengungen
aufgebrochen und marginalisierten Stimmen
neuer Raum gegeben werden. Die ehemals Kolonisierten
werden dabei nicht als passive Objekte, sondern
mit Blick auf ihre widerständige Handlungsmacht in
den Blick genommen. Insbesondere postkoloniale Studien
zeichnen sich dabei durch eine hohe Sensibilität
für die Ambivalenz und Uneindeutigkeit aus, die das
Verhältnis von (ehemals) Kolonisierenden und (ehemals)
Kolonisierten im (post)kolonialen Raum prägen.

Doch was meinen überhaupt die Begriffe »Postkolonialismus
« und »Dekolonialisierung«? Worin liegt
die Relevanz von postkolonialen Studien und Dekolonisierungsbemühungen
für den deutschsprachigen
Kontext? Und was ändert sich, wenn man mit einem
postkolonial sensibilisierten Blick auf Theologie und
Kirche blickt? Im Folgenden dazu einige Gedanken:

Postkolonialismus und Dekolonialisierung

Im Fokus post- und dekolonialer Studien steht in der
Regel der europäische Kolonialismus seit der Conquista
Amerikas ab 1492 bis zur politischen Unabhängigkeit
des Großteils der ehemals afrikanischen
und asiatischen Kolonien in den 1950er-, 1960er- und
1970er-Jahren. Folgt man einer Definition des Historikers
Jürgen Osterhammel, so lässt sich eine Kolonie
verstehen als »ein durch Invasion (Eroberung und/
oder Siedlungskolonisation) in Anknüpfung an vorkoloniale
Zustände neu geschaffenes politisches Gebilde,
dessen landfremde Herrschaftsträger in dauerhaften
Abhängigkeitsbeziehungen zu einem räumlich
entfernten ‚Mutterland‘ oder imperialen Zentrum stehen,
welches exklusive ‚Besitz‘- Ansprüche auf die Kolonie
erhebt«. Die Situation in den Kolonien und die
Formen kolonialer Herrschaft unterschieden sich dabei
je nach Epoche und Kontext freilich beträchtlich,
so dass Verallgemeinerungen schwierig sind. In allen
Kontexten war der Kolonialismus jedoch zumeist
mit massiver physischer, psychischer und sexueller
Gewalt, mit Rassismus, Sklaverei und Zwangsarbeit,
Ausbeutung von Ressourcen und Zerstörung natürlicher
Lebensräume, Vernichtung und Unterdrückung
von indigenen Kulturen, Religionen und Wissenssystemen
bis hin zum Genozid wie etwa in der deutschen
Kolonie Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia)
verbunden.

»In allen Kontexten
war der Kolonialismus mit
Gewalt verbunden«

Sebastian Pittl

Post- und dekoloniale Studien nehmen ihren Ausgangspunkt
bei der bitteren Feststellung, dass die Auswirkungen
des Kolonialismus mit seinem offiziellen
Ende keineswegs vorüber sind, sondern das koloniale
Erbe die Gesellschaften der ehemals kolonisierten
Länder wie die der ehemaligen kolonialen Mutterländer
bis heute prägt. Dekolonialisierung ist somit nicht
bloß eine Sache der Vergangenheit, sondern eine Voraussetzung
für ein menschenwürdigeres Zusammenleben
in der globalisierten Gegenwart und Zukunft.

Die sogenannten »Postcolonial Studies« (Postkoloniale
Studien) haben sich dabei ab den späten
1970er-Jahren – geprägt durch Intellektuelle aus dem
Einflussbereich der ehemaligen britischen Kolonien
wie Edward Said (1935–2003), Gayatri Spivak (*1942)
und Homi Bhabha (*1949) – zunächst vor
allem an angelsächsischen Universitäten
etabliert. Prägend für die Postcolonial Studies
waren dabei ihre stark kulturwissenschaftliche
Verankerung sowie der große
Einfluss französischer poststrukturalistischer
Ansätze (Michel Foucault, Jacques
Derrida, Jacques Lacan u. a.). Aber auch das
intellektuelle Erbe der antikolonialen Bewegungen
(insbesondere im britischen Empire
und kolonialen Frankreich), Erfahrungen
von (Post-)Migrantinnen aus den ehemaligen
Kolonien in den westlichen Metropolen
sowie feministische Analysen bilden einen
wichtigen Bezugspunkt. Im Unterschied zur
marxistischen Imperialismuskritik standen
weniger ökonomische Ausbeutungsverhältnisse
als vielmehr die diskursive und symbolische
Dimension des Kolonialismus im
Mittelpunkt. Wichtige Fragen waren etwa,
unter welchen Voraussetzungen in kolonialen
Zusammenhängen (z. B. ethnografisches
oder anthropologisches) Wissen produziert
wird, auf welche Weise dieses Wissen koloniale
Machtverhältnisse und globale Asymmetrien
bis heute stabilisiert, wie in kolonialen
Kontexten kulturelle, nationale oder
religiöse Identitäten geformt, aufgebrochen
und transformiert werden und welche Stimmen
in diesen Prozessen jeweils ausgeblendet
und marginalisiert werden. Postkoloniale
Studien waren dabei von Anfang an ein
eminent wissenschaftspolitisches Projekt,
das darauf zielte, die eurozentrischen Verengungen
und rassistischen Verzerrungen
akademischer Wissenschaft offenzulegen.
So zeigte Edward Said in seinem einflussreichen
Werk »Orientalism« (1978) auf, wie
die westlichen Diskurse über den »Orient«
einen Gegensatz zwischen einem rationalen,
aufgeklärten, fortschrittlichen »Westen« und
einem irrationalen, mystisch-sinnlichen,
rückständigen »Orient« konstruieren, der
den Orient als das wesentlich »Andere« Europas
und die europäische Herrschaft über
den Orient als letztlich natürlich erscheinen
lässt.

Dekoloniale Theorien haben sich demgegenüber
zunächst vor allem im lateinamerikanischen
Raum entwickelt. Sie stehen in der Tradition des lateinamerikanischen
Antiimperialismus und reflektieren die
spezifischen Bedingungen dieses Kontexts,
dessen Kolonialgeschichte bis ins 15. Jh.
zurückreicht und sich mit dem Erreichen
der Unabhängigkeit der meisten lateinamerikanischen
Länder Mitte des 19. Jh. von
Spanien und Portugal in einen verstärkt von
den USA geprägten Imperialismus transformiert.
Auch hier geht es nicht nur um
die Analyse ökonomischer Abhängigkeiten,
sondern um die Analyse einer bis heute fortwirkenden
Struktur der Kolonialität, in der
epistemologische, soziologische, politische
und ökonomische Dimensionen ineinandergreifen.
Bisweilen grenzen sich dekoloniale
Denkerinnen und Denker von den stark im
angelsächsischen Raum verankerten Postcolonial
Studies ab. Dennoch gibt es viele
Überschneidungen, so dass es nicht möglich
ist, klare Trennlinien zu ziehen. So verstehen
sich sowohl post- wie dekoloniale Studien
nicht bloß als akademische Forschungsrichtungen,
sondern sind mit verschiedenen Initiativen
zur Dekolonialisierung von Wissenschaft,
Gesellschaft und Politik verknüpft.
Und in beiden geht es um die Analyse und
Überwindung des komplexen Erbes kolonialer
Strukturen in allen Bereichen der Gesellschaft.

In den letzten Jahren haben sich die verschiedenen
Ansätze der post- und dekolonialen
Studien zu einem inter- und transdisziplinären
Forschungsfeld entwickelt, in dem
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
der Kulturwissenschaft, aber auch Soziologie,
Politikwissenschaft, Philosophie, Geschichtswissenschaft
u. a. forschen, wobei
in den verschiedenen Disziplinen auf kreative
Weise an affine Ansätze aus dem je eigenen
Feld angeknüpft wird (z. B. kritische
Entwicklungsforschung, Interkulturelle
Philosophie, Globalgeschichte, Rassismusforschung
etc.). Für eine post- bzw. dekoloniale
Theologie sind insbesondere die
verschiedenen Befreiungstheologien und
kontextuellen Theologien sowie Formen einer
kritischen Missionswissenschaft und
Interkulturellen Theologie wichtige Gesprächspartner,
in denen zum Teil bereits ab den 1960er-Jahren Ansätze entwickelt wurden, die
man mit einigem Recht als postkoloniale Theologie
avant la lettre bezeichnen kann.

Postkolonialismus und Dekolonialisierung in Deutschland

Bis vor noch nicht allzu langer Zeit wurde die Relevanz
post- und dekolonialer Studien für den deutschsprachigen
Kontext mit Verweis auf die vergleichsweise
kurze Dauer des offiziellen deutschen Kolonialismus
infrage gestellt. In den letzten Jahren ist jedoch ein
zunehmendes Bewusstsein dafür entstanden, dass
der Kolonialismus – sowohl als diskursive Formation
wie als politisches Projekt – ein gesamteuropäisches
Phänomen darstellt, in das von Anfang an auch Akteurinnen
und Akteure aus dem Gebiet des heutigen
Deutschlands verstrickt waren. So prägten deutsche
Forschungsreisende, Missionare und Wissenschaftler
durch ihre Berichte und Forschungen das europäische
Bild von den Kolonien und der »zivilisatorischen«
Aufgabe Europas entscheidend mit. Einflussreich
waren in philosophischer Hinsicht Kant und Hegel.
Aber auch Bibelwissenschaftler wie Johann David
Michaelis und Johann Gottfried Eichhorn trugen zur
Produktion und Aufrechterhaltung orientalistischer
Stereotype bei. Für die Vorstellungswelt breiter Bevölkerungsschichten
nicht zu unterschätzen sind auflagenstarke
Missionszeitschriften und Missionsfeste,
an denen im 19. Jh. teils bis zu 10.000 Menschen teilnahmen.
Letztere hatten einen entscheidenden Anteil
daran, ländliche und analphabetische Bevölkerungsgruppen
von den positiven Auswirkungen der Verbreitung
»christlich-europäischer« Zivilisation in den Kolonien
zu überzeugen.

»Dekolonisierung ist eine
Voraussetzung für ein menschenwürdiges
Zusammenleben«

Sebastian Pittl

Der offizielle Eintritt des Deutschen Reichs in den
Wettstreit der europäischen Kolonialmächte in den
1880er-Jahren, in dessen Folge Deutschland in kurzer
Zeit das drittgrößte Kolonialreich der Welt schuf, konnte an diese lange und vielschichtige Vorgeschichte
anknüpfen. Die Kolonialpolitik des »zu spät« gekommenen
Deutschlands war dabei vom Ehrgeiz getrieben,
ein ökonomisch wie verwaltungstechnisch
mustergültiges Kolonialreich zu errichten. Zur Sicherung
der wirtschaftlichen Rentabilität der Kolonien
wurde auf ein System der Zwangsarbeit zurückgegriffen.
Widerstand wurde brutal unterdrückt, wovon
neben dem Völkermord an den Herero und Nama
(1904–1908) in »Deutsch-Südwestafrika« auch die Niederschlagung
des Maji-Maji-Aufstands (1905–1907) in
»Deutsch-Ostafrika« (dem heutigen Tansania und Ruanda)
mit geschätzt bis zu 300.000 Opfern zeugt.

Die öffentliche Aufarbeitung der lange verdrängten
oder romantisierten deutschen Kolonialgeschichte
hat erst in den letzten Jahren unter dem Druck verschiedener
post- und dekolonialer Initiativen Fahrt
aufgenommen. Im Juni 2021 verständigten sich die
deutsche und namibische Regierung nach jahrelangen
Gesprächen auf ein – wegen der mangelnden Einbindung
der betroffenen Bevölkerungsgruppen auch
viel kritisiertes – Abkommen, in dem Deutschland
seine 2015 erstmals vollzogene Anerkennung des Genozids
an den Herero und Nama bekräftigte und sich
offiziell entschuldigte. Im Fokus verschiedener postund
dekolonialer Initiativen heute stehen der Umgang
mit kolonialer Raubkunst, wie er im Vorjahr anlässlich
der Eröffnung des Humboldt Forums ins Zentrum
der Debatten gerückt ist, die Umbenennung kolonial
belasteter Straßennamen, der Kampf gegen rassistische
Strukturen in Gesellschaft, Wissenschaft und
Kultur sowie die kritische Thematisierung der Rolle
Deutschlands innerhalb der gegenwärtigen globalen
Machtverhältnisse. Dass die genannten Initiativen in
den letzten Jahren zunehmend Resonanz in Politik
und Gesellschaft gefunden haben, ist dabei nicht nur
ein Niederschlag akademischer Debatten, sondern
spiegelt die zunehmende Diversifizierung der Bevölkerung
und veränderte globale Konstellationen wider.
Lange Zeit verdrängte oder ausgeblendete Stimmen
werden dadurch zunehmend hörbar, was etablierte
Narrative und Strukturen in Frage stellt.

Kolonialismus und Christentum

Die Rolle der Kirchen und Theologie während der
deutschen Kolonialzeit ist vielschichtig. Teils legitimierten
Missionare die brutalen Auswüchse des
Kolonialregimes, teils protestierten sie lautstark dagegen.
Kritik zielte zumeist auf eine Reform der Kolonialherrschaft,
selten jedoch auf deren grundlegende Infragestellung. Zum Selbstverständnis nicht weniger
Missionare gehörte es, Beschützer und Sprachrohr
der einheimischen Bevölkerung zu sein, die aufgrund
der alltäglichen Nähe eine besondere Kenntnis der realen
Bedürfnisse vor Ort beanspruchen durften.

Tatsächlich leisteten viele Missionare Pionierarbeit
auf dem Gebiet der Anthropologie, Ethnologie und
Sprachwissenschaft, wobei sich diese wissenschaftliche
Arbeit mit rassistischen Stereotypisierungen
verband. Der »Schutz« der »Eingeborenen« durch die
Missionarinnen und Missionare war vielfach von Paternalismus
und bisweilen unmittelbarere Gewalt,
insbesondere gegenüber indigenen Religionen und
Verhaltensweisen, die man als »unmoralisch« betrachtete,
geprägt. Die Bildungsarbeit der Missionare trug
bisweilen indirekt aber auch zu subversiven Aneignungen
des Christentums bei. So gründete eine Gruppe
von Togoern, die Ende des 19. Jh. von der norddeutschen
Mission zur Ausbildung an Missionsschulen
nach Württemberg geschickt worden waren, nach ihrer
Rückkehr mit Rekurs auf theologische Argumente
einen unabhängigen Lehrerverband ohne europäische
Beteiligung, der später zu einem Grundstein des antikolonialen
togolesischen Widerstands wurde. Auch in
anderen Kontexten lassen sich Beispiele einer solchen
subversiven Aneignung des Christentums finden, die
auf kreative Weise an die herrschaftskritischen Elemente
der biblischen Texte anschließt, um die Religion
der Kolonisatoren schließlich gegen diese selbst zu
wenden. Die im 20. Jh. entstandenen Befreiungstheologien
in Lateinamerika, Afrika und Asien lassen sich
als Fortführungen dieser widerständigen Geschichte
verstehen.

Themenfelder post- und dekolonialer Theologie

Post- und dekoloniale Theorien erfahren heute in fast
allen theologischen Disziplinen Rezeption. Die Themenfelder
und Methoden variieren dabei je nach Kontext
und Herausforderungssituation. Im Folgenden
seien in exemplarischer Weise drei produktive Arbeitsfelder
für eine post- und dekolonial sensibilisierte
Theologie im deutschsprachigen Kontext benannt:

Ein erster Beitrag post- und dekolonialer Theoriebildung
für die Theologie liegt in neuen Sensibilitäten
für die Ambivalenzen und das Thema Macht in Schrift
und Tradition. Post- und dekoloniale Theologien bringen
in neuer Weise zu Bewusstsein, dass ein großer
Teil der biblischen Schriften und der Zeugnisse der
Tradition in Kontexten entstanden ist, die den imperialen
Räumen der europäischen Kolonialzeit in vielerlei Hinsicht verwandt sind. Die imperialen Räume
von Babylon, Ägypten, Assur, Rom, Aachen, Byzanz,
Madrid u. a. bildeten den politischen, sozialen und
kulturellen Resonanzraum, in dem bis weit in die
Neuzeit hinein maßgebliche theologische Denkformen
entwickelt wurden. Die Einsichten, die post- und dekoloniale
Studien in Bezug auf Identitäts- und Traditionsbildungsprozesse
in von großer Machtasymmetrie
geprägten Kontexten bereitstellen, können dazu
beitragen, die vielschichtigen Formen zu Bewusstsein
zu bringen, in denen bereits in Schrift und Tradition
Fragen von Identität und Alterität, Macht und Repräsentation
verhandelt und bearbeitet werden. Und sie
schärfen das Bewusstsein dafür, welche Stimmen dabei
jeweils marginalisiert oder ausgeblendet werden.
Davon ausgehend lässt sich wiederum ein genauerer
Blick auf die komplexe Vielfalt werfen, in der Schrift
und Tradition in kolonialen Kontexten gelesen werden,
wie sie als Legitimationsinstanzen sowohl von
kolonialer Herrschaft als auch von antikolonialem
Widerstand verwendet werden und wie koloniale und
rassistische Auslegetraditionen bis heute in Kirche
und Theologie fortwirken. Postkoloniale Lektüren
der biblischen Texte entwickeln dabei überraschende
neue Perspektiven auf marginalisierte Figuren biblischer
Texte wie Hagar, Orpa oder die Kanaaniter. So
hat Stefan Silber mit dem südafrikanischen Bibelwissenschaftler
Itumeleng J. Mosala darauf aufmerksam
gemacht, wie sich etwa für Bevölkerungsgruppen, die
selbst zum Opfer theologisch legitimierter kolonialer
Vertreibung geworden sind, eine Interpretation der
Exoduserzählung aus der Perspektive der Kanaaniter
geradezu aufdrängt.

»Kolonialismus stellt ein gesamteuropäisches
Phänomen dar«

Sebastian Pittl

Ein zweiter wichtiger Beitrag post- und dekolonialer
Theorien für die Theologie liegt darin, ein
komplexeres Bild in Bezug auf das in der deutschsprachigen
Theologie viel diskutierte Verhältnis von
Christentum und Moderne zu zeichnen. Gegen einseitige
Interpretationen der Moderne entweder als Zeit
allumfassender Rationalisierung und Emanzipation
(auch von religiöser Fremdbestimmung) oder aber
umgekehrt einzig als Epoche gewaltvoller Bemächtigung
des »Anderen« können postkoloniale Ansätze
dazu beitragen, die tiefen Ambivalenzen der sozialen,
politischen, kulturellen, ökonomischen und geistigen
Transformationen freizulegen, die man mit diesem
Begriff zumeist verbindet. Dadurch wird sichtbar,
wie partielle Emanzipierungsschübe häufig Hand in
Hand mit neuen Formen der Diskriminierung gehen,
wie z. B. im Fall des aufgeklärten Rassismus, in dem
sich Forderungen nach politischer Freiheit mit neuen
Legitimationsstrategien des Kolonialismus als »Erziehung
« des vermeintlich noch unmündigen Teils
der Menschheit verbinden. Der selbstkritische Blick
auf das koloniale Erbe akademischer Wissenschaft
kann die Theologie zur kritischen Prüfung anregen,
inwieweit auch in ihren epistemologischen Voraussetzungen,
Methoden und institutionellen Settings
weiterhin koloniale Muster wirksam sind.

In Bezug auf den interreligiösen Dialog sind postund
dekoloniale Perspektiven zum einen insofern
wichtig, als in der gegenwärtigen Wahrnehmung religiöser
Differenzen weiterhin Muster aus der Kolonialzeit
– im Fall der hinduistischen und buddhistischen
Traditionen etwa das orientalistische Bild des mystischen
oder spirituellen Orients – wirksam sind. Zum
anderen findet der interreligiöse Dialog in der Gegenwart
unter höchst asymmetrischen Bedingungen statt,
für deren Analyse postkoloniale Studien hilfreiche
Methoden zur Verfügung stellen. So können postkoloniale
Analysen dazu beitragen, die wechselseitige
Verflochtenheit religiöser Identitätsbildungsprozesse
– etwa zwischen Judentum, Christentum und Islam –
zu analysieren und Prozesse des (exotisierenden oder
dämonisierenden) »Othering« zu aufzudecken. Eine
Stärke postkolonial informierter Religionstheologie
liegt ebenso in der Aufmerksamkeit für Formen hybrider
Identität jenseits der simplen Kategorien von Orthodoxie,
Heterodoxie und Synkretismus sowie in der
Infragestellung einer unkritischen Übertragung eines
eurozentrischen Verständnisses von Religion auf andere
religiöse Traditionen.